Magazin für unabhängiges Kino
Filmwecker
Filmnotiz

Neue Notiz

Dil Leyla

Eine Diaspora-Tragödie

Mit 6 Jahren kam Leyla Imret nach Deutschland, mit 27 kehrte sie in ihren Heimatort Cizre in der Osttürkei zurück, kandidierte bei den Kommunalwahlen auf der Liste der sozialdemokratischen Kurdenpartei BDP und wurde eine der jüngsten Bürgermeisterinnen in der Türkei. 2015 wurde Imret des Terrorismus angeklagt, seit Februar ist sie vermisst.

Mehr

Leyla Imrets Mutter schickte ihre sechsjährige Tochter 1993 zur nach Deutschland geflohenen Tante, die bereits in Bremen-Nord lebte. Das war, nachdem türkische Soldaten Leylas Vater als „Terroristen“ erschossen hatten. 21 Jahre später kehrte Leyla in ihren Heimatort, die 110.000 Einwohner zählende Stadt Cizre in der Osttürkei zurück und kandidierte bei den Kommunalwahlen auf der Liste der sozialdemokratischen Kurdenpartei BDP für das Bürgermeisteramt. Mit 28 Jahren war Leyla eine der jüngsten Bürgermeisterinnen in der Türkei.

Als Asli Özarslan mit ihrem Dokumentarfilm DIL LEYLA begann, machte Leyla Imret Pläne: Hier sollte ein Park entstehen, dort der Basar saniert werden, ein modernes, hygienisches Schlachthaus sollte gebaut werden, der Friedensprozess sollte vorangetrieben werden. Mit dem Waffenstillstand zwischen der PKK und der türkischen Regierung und der Zulassung der sozialdemokratischen, kurdisch dominierten Partei HDP zu den türkischen Parlamentswahlen schienen die kurdischen Regionen in der Türkei zum ersten Mal die Chance auf eine angemessene Repräsentation im Parlament zu erhalten. Leylas Mutter teilt den Optimismus ihrer Tochter allerdings nicht: „Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie nicht nach Cizre zurück gekommen wäre. Ich kenne Cizre.“ Nach den Parlamentswahlen, bei denen die HDP 80 Sitze im türkischen Parlament erringen konnte, beginnen rasch neue Auseinandersetzungen und Repressionen. Die türkische Regierung verhängt wochenlange Ausgangssperren in Cizre, das Filmteam und andere Journalisten müssen die Stadt verlassen. Nach einem Interview mit dem Magazin VICE, demzufolge Leyla Imret gesagt haben soll, es werde einen Bürgerkrieg geben und er werde in Cizre beginnen, wird Leyla ihres Amtes enthoben und wegen terroristischer Propaganda und Anstiftung zur Rebellion angeklagt. Tatsächlich hatte sie gesagt: „Bei uns gibt es ein Sprichwort: Wenn es Frieden gibt, beginnt er in Cizre. Und wenn es Krieg gibt, beginnt er auch in Cizre“. Nach einer ersten Verhandlung wurde Leyla wieder freigelassen, durfte die Türkei aber nicht mehr verlassen. In der Hauptverhandlung drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft.

DIL LEYLA ist ein Film über die katastrophale, sich ständig verschlimmernde politische Situation der Kurden in der Türkei, aber es ist auch ein Film über die Erfahrungen und das Lebensgefühl eines Einwandererkinds in Deutschland. DIL LEYLA nannte Leylas Vater seine Tochter: „Mein Herz Leyla“. Er wollte sie auf die besten Schulen in Europa schicken und er habe gesagt, er würde sie nicht für tausend Söhne tauschen, erzählt Leyla. Aus den besten Schulen wurde nichts, auch wenn der Film das nicht erwähnt: Leyla wollte Politik studieren, da sie aber von Abschiebung bedroht war, musste sie eine Beschäftigung nachweisen und wurde Frisörin. Das Erbe des Vaters, der in Kurdistan als Märtyrer gilt, wollte sie aber antreten. Sie erzählt, wie sie bei ihrem ersten Besuch eine starke Verbundenheit gespürt habe, als sie die Wege gegangen sei, die der Vater tausendmal gegangen sei. Als sie zur Hochzeit ihrer Schwester im April 2014 nach Bremen zurückkehrt, ist aber auch das Heimweh nach Deutschland spürbar. „Wie grün das hier im April ist“, sagt Leyla „So soll das bei uns auch aussehen.“ 15.000 Bäume habe sie pflanzen lassen, in drei Jahren seien die auch so groß, erzählt sie.

Asli Özarslans Film sollte ein Porträt dieser entschlossenen Frau werden, in deren Leben so viele Themen zusammen laufen, und vielleicht hatte er einmal mit dem Happy-End anfangen sollen – wie die glücklich zurückgekehrte junge Bürgermeisterin von ihren Wählern in Cizre gefeiert wird, wie sie alle ein Selfie mit Leyla machen wollen – ein erfüllter Diaspora-Traum. Nun fängt der Film mit Bildern von 1993 an, mit einem türkischen Panzer, der in ein Newroz-Fest in Cizre hineinrollt, Jagd auf Männer, Frauen und Kinder macht. Leyla Imret wird seit Februar in der Türkei vermisst.

Tom Dorow

Details

Deutschland 2016, 71 min
Sprache: Kurdisch, Deutsch
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Aslı Özarslan
Drehbuch: Asli Özarslan
Kamera: Carina Neubohn, Asli Özarslan
Schnitt: Ana Branea
Verleih: Essence Film
FSK: 12
Kinostart: 29.06.2017

Website
IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

ALLE ANGABEN OHNE GEWÄHR.
Die Inhalte dieser Webseite dürfen nicht gehandelt oder weitergegeben werden. Jede Vervielfältigung, Veröffentlichung oder andere Nutzung dieser Inhalte ist verboten, soweit die INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) nicht ausdrücklich schriftlich ihr Einverständnis erklärt hat.