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Die Geträumten

Herzzeit im Tonstudio

Zwei Schauspieler, ein Raum, drei Zeitphasen einer großen Liebe. Zwei Schauspieler lesen aus dem Briefwechsel von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, der 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ erschien. Ruth Beckermann filmt die Wiederbelebung der Liebessprache durch die Schauspieler neben Rauchpausen, Diskussionen über die Texte, Gängen durch das Gebäude, Reaktionen auf die Lesungen.

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Zwei Schauspieler, ein Raum, drei Zeitphasen einer großen Liebe. Paul Celan und Ingeborg Bachmann verlieben sich im Frühjahr 1948 ineinander, trennen sich nach großen Verletzungen 1951 und stürzen sich 1957 noch einmal in eine kurzzeitige Affäre. Der Briefwechsel der beiden Dichter erschien 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ und enthob diese tragische moderne Liebesgeschichte zweier lebenshungriger und -gefährdeter Menschen dem Status eines bloßen literaturwissenschaftlichen Gerüchts. Die Dokumentarfilmemacherin Ruth Beckermann hat nun zwei Schauspieler engagiert, die wechselseitig aus den Briefen vorlesen – in einem Studio des ORF-Funkhauses in der Wiener Argentinierstraße. Die Textpassagen sind chronologisch montiert, der Tontechniker hat den Abstand der Sprechenden zum Text und zum Mikrofon genau festgelegt, Beckermanns Team filmt die Wiederbelebung der Liebessprache durch die Schauspieler neben Rauchpausen, Diskussionen über die Texte, Gängen durch das Gebäude, Reaktionen auf die Lesungen.

„Jetzt Schluss bitte!“ In nicht wenigen Momenten können wir sehen, wie sehr Anja Plaschg und Laurence Rupp von den Texten ergriffen werden, die sie gerade lesen. Etwa wenn Plaschg einen Brief von Bachmann zitiert, der vom unaufhaltsamen Fortgleiten des vom Holocaust traumatisierten Geliebten handelt: „und mich verdunkelst mit dem schweren Traum, in dem ich Licht werden möchte.“ Später versteckt die Schauspielerin ihre Bestürzung hinter einer Manuskriptseite, nachdem sie Bachmanns Fazit vorgelesen hat: „Ich habe alles auf eine Karte gesetzt – und ich habe alles verloren.“ Aber auch die leichtherzigen Wortspiele und pathetischen Schwärmereien fallen in den Resonanzraum des Studios – Plaschg und Rupp albern mit Textzitaten, berühren Tattoos, schauen Handyvideos, lächeln sich an.

Beckermann inszeniert diese Zwischenbilder genauso wenig wie die dokumentarischen Aufnahmen aus dem Tonstudio als Verfremdungseffekt, der das Herstellen von Gefühlen als künstlerisches Handwerk vor Augen führen soll. DIE GETRÄUMTEN ist vielmehr eine Re-Inszenierung der unauflöslichen Verbundenheit zweier Menschen, die sich lieben und verletzen, sich nicht trennen und nicht voreinander schützen können. Mehr und mehr lösen sich die Darsteller in der Welt der Figuren auf, verteidigen deren Situation, durchleben die Konflikte. Kunstvoll – bei aller Reduktion auf die minimalistischen Anordnung – fängt die Kamera das Lesen wie das Zuhören ein, die Anspannung, die Erotisierung der Atmosphäre wie die nachmittägliche Müdigkeit, trennt sie die Schauspielerkörper in Schuss- und Gegenschussaufnahmen, fügt sie in Halbtotalen wieder zusammen, über Manuskripte und Mikrofone hinweg. Manchmal sind Briefpassagen wie schnelle Dialoge montiert, die sich Plaschg und Rupp zuwerfen, manchmal stehen sie fremd, wie in Stein gemeißelt auf der Tonspur, außerhalb des Bildes. Manchmal entspinnt sich ein Spiel des Sprechens und Zuhörens in unbewegten, gespannten Großaufnahmen, ein anderes Mal zittert die Handkamera mit den Wörtern und Atemzügen mit oder umfährt gar die Körper der Lesenden.

Angesichts der Unmöglichkeit dieser Liebe haben Bachmann und Celan versucht, eine Sprache zu finden, auch ein Schweigen, um diese Verbindung nicht aufzulösen. Ruth Beckermann sucht mit gleicher Vehemenz nach Bildern. Die Schärfe verlagert sich in beiden Medien. Schnitte werden ebenfalls in beiden gesetzt. „Das Gedicht, dass wir miteinander gemacht haben“ (Bachmann an Celan), die Form, die für eine formsprengende Beziehung gefunden wurde, die Aufführung, die eine neue Beziehung herstellt, eine Kamera, die festhält, was für andere unsichtbar war, all das fließt in einen Film über zwei Figuren, die sich gegenseitig vielleicht nur geträumt haben. DIE GETRÄUMTEN ist ein Herz-Kammer-Spiel.

Jan Künemund

Details

Österreich 2016, 89 min
Regie: Ruth Beckermann
Drehbuch: Ina Hartwig, Ruth Beckermann
Kamera: Johannes Hammel
Schnitt: Dieter Pichler
Verleih: Grandfilm
Darsteller: Laurence Rupp, Anja Plaschg
Kinostart: 27.10.2016

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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