Neue Notiz
Der Glanz der Unsichtbaren
Genau hinschauen
Das Tageszentrum für wohnungslose Frauen „L’Envol“ soll geschlossen werden. Die beschliessen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Das geht nicht immer gut, macht aber dennoch Hoffnung.
Zunächst hört man nur eine Stimme. Eine Frau erzählt vom Sozialamt. Das dauert zwei Wochen, sagte der Beamte. Ich warte schon drei Monate, habe ich gesagt. Oh, das ist wohl nicht übermittelt worden, meint der. Der blöde Arsch. Was machen die Idioten da eigentlich den ganzen Tag? Die Kamera geht auf und zeigt zunächst Details. Wartenummern, eine Frau im Bus, eine lange Schlange. Dann erst sieht man die ganze Gruppe. Es sind obdachlose Frauen, die an einem grauen, kalten Morgen vor dem „L’Envol“ stehen, einem Tageszentrum für Wohnungslose, und darauf warten, dass es aufmacht.
Erstmal zuhören. Genau hinschauen. Der Anfang von DER GLANZ DER UNSICHTBAREN (auf Französisch kürzer und kämpferischer LES INVISIBLES – DIE UNSICHTBAREN) ist programmatisch für die Herangehensweise von Regisseur Louis-Julien Petit. Ausgangspunkt für seine Komödie waren ein Dokumentarfilm und ein Sachbuch. In ihrem Film FEMMES INVISIBLES: SURVIVRE DANS LA RUE und dem anschließenden Buch „Sur la route des invisibles“ hat Claire Lajeunie obdachlose Frauen, die 40% der französischen Wohnungslosen ausmachen, porträtiert. Petit war von den Frauen fasziniert, merkte aber bald, dass eine reine Adaption des Buches dem Text nichts hinzuzufügen hatte und entschied sich für einen leichteren, komödiantischen Ansatz, etwas in der Richtung wie MEIN WUNDERBARER WASCHSALON oder GANZ ODER GAR NICHT schwebte ihm vor, auch die Filme von Ken Loach fallen einem ein, wenn man DIE UNSICHTBAREN sieht.
Dreh- und Angelpunkt des Films ist das Tageszentrum L’Envol. Hier finden die Frauen einen sicheren Ort, können duschen und ausruhen und sich aufwärmen. Das Team des Zentrums verteilt Busfahrkarten, macht Termine beim Sozialamt und besorgt Schlafplätze. Für Petit ist dieses tägliche Kleinklein nicht nur atmosphärischer Hintergrund, er interessiert sich für Abläufe und Details und erzählt über sie viel vom Leben auf der Straße - und von denen, die versuchen, Hilfe zu bieten, und die fast genauso unsichtbar sind. Wenn Audrey (Audrey Lamy) erschöpft in ihrem Büro sitzt und im Stakkato die Nummer der Schlafstation wählt, wieder und wieder und nochmal, bis die Leitung endlich nicht mehr besetzt ist, spricht das Bände über die Not, im Winter ein Dach über dem Kopf zu finden und die Sisyphusarbeit der Helferinnen. Auf der Jobsuche schleppt Chantal (Adolpha Van Meerhaeghe) drei große Taschen mit. Es ist ihr ganzes Hab und Gut, wo soll sie sonst damit hin? Aber mit den Taschen dabei, ist fast schon garantiert, dass niemand sie einstellt. Dass sie allen sofort frei heraus erzählt, dass sie ihre Ausbildung im Gefängnis gemacht hat, hilft natürlich auch nicht.
Das Envol jedenfalls ist ein guter Ort, aber es ist bedroht. Es werden nicht genug Frauen in feste Verhältnisse vermittelt. „Ihr nehmt sie zu sehr an die Hand, so werden sie nie selbständig,“ sagt der junge Beamte mit dem Hipster-Bart, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben gefroren hat. Die Frauen vom Envol – die Kundinnen und die Sozialarbeiterinnen – wollen sich das nicht bieten lassen und beschließen, eine eigene Jobbörse aufzumachen, sich gegenseitig Fertigkeiten zu vermitteln und die Vermittlung selbst in die Hand zu nehmen. Das ist allerdings nicht so einfach wie gedacht. Der dramaturgische Bogen von DER GLANZ DER UNSICHTBAREN ist ähnlich gestrickt wie in GANZ ODER GAR NICHT oder CALENDER GIRLS, funktioniert aber bei weitem nicht so reibungslos. Und das ist in meinen Augen eine gute Sache. Petit lässt sich immer wieder von der Wirklichkeit ablenken und zu der gehört auch, dass nicht alle Lebensläufe vermittelbar sind. Nicht jede Geschichte lässt sich mit einem hübschen Schleifchen abschließen. Viele der Dialoge sind inszeniert, und während die Sozialarbeiterinnen von professionellen Schauspielerinnen gespielt werden, engagierte Petit für die Rollen fast aller wohnungslosen Frauen Darstellerinnen, die Wohnungslosigkeit in ihrem Leben erfahren haben - und die können es mit den Profis an Leinwandpräsenz locker aufnehmen. Diese Präsenz - viel eher als die klassischen und manchmal etwas verloren wirkenden Erzählkinomomente des Films - ist der „Feelgood“-Faktor von DER GLANZ DER UNSICHTBAREN.
Mit wenigen Ausnahmen erzählen die Filme, die aus Frankreich in letzter Zeit zu uns ins Kino kamen, von bürgerlichen und großbürgerlichen Welten. Wenn überhaupt, dann kommt die Welt der „Gelbwesten“ dort als das Andere vor, das assimiliert wird, oder das zur persönlichen Entwicklung des bürgerlichen Individuums beiträgt. In der nächsten Zeit kann man sich nun auf eine Reihe klarsichtiger und wütender Produktionen freuen, die das Bürgertum links liegen lassen und von jenen erzählen, die auch Bürger und Bürgerinnen aber nie mitgemeint sind: LES INVISIBLES macht den Anfang, im November kommt mit HORS NORMES (Außerhalb der Norm) ein Herzensprojekt von Olivier Nakache und Éric Toledano ins Kino, das denen gewidmet ist, die das soziale Netz täglich zusammenhalten, und in LES MISÉRABLES, der Anfang nächsten Jahres startet, begibt sich Ladj Ly in die Banlieues. Die Unsichtbaren, die außerhalb der Norm und die Elenden rücken ins Zentrum.
Originaltitel: Les Invisibles
Frankreich 2018, 102 min
Sprache: Französisch
Genre: Komödie
Regie: Louis-Julien Petit
Drehbuch: Marion Doussot, Claire Lajeunie, Louis-Julien Petit
Kamera: David Chambille
Schnitt: Nathan Delannoy, Antoine Vareille
Musik: Laurent Perez del Mar
Verleih: Piffl Medien
Darsteller: Audrey Lamy, Corinne Masiero, Déborah Lukumuena, Noémie Lvovsky
FSK: 6
Kinostart: 10.10.2019
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