Neue Notiz
Der Anständige
Psychologie der Gewalt
Heinrich Himmler, Nationalsozialist der ersten Stunde, später Reichsführer der SS, in den letzten Jahren des NS-Regimes auch dessen Innenminister, war eine der zentralen Figuren in der Gewaltpolitik des Nationalsozialismus, insbesondere der Shoah. Aus privaten Selbstzeugnisse der Familie Himmler rekonstruiert der komplexe Dokumentarfilm DER ANSTÄNDIGE die Weltanschauung eines Überzeugungstäters.
Heinrich Himmler, Nationalsozialist der ersten Stunde, später Reichsführer der SS, in den letzten Jahren des NS-Regimes auch dessen Innenminister, war eine der zentralen Figuren in der Gewaltpolitik des Nationalsozialismus, insbesondere der Shoah. In DAS HIMMLER PROJEKT, Romuald Karmakars Dokumentarfilm von 2000 spricht Manfred Zapatka Himmlers berühmteste Rede, die dieser 1943 unter Geheimhaltung vor SS Offizieren in Posen/Poznań gehalten hatte. Die Rede, deren Besonderheit ist, dass sich hier eine Nazi-Führungspersönlichkeit offen und glorifizierend über den systematischen Mord an den europäischen Juden äußert, wird von Zapatka dabei vor einem schlichten Studiohintergrund in betont nüchternem Gestus vorgetragen. Die ästhetische Wirkung Karmakars Film lag im markanten Kontrast zum seit den 90ern grassierenden Geschichtsfernsehen Guido Knopps. In ihrer Konzentration auf den Text der Rede versetzt Karmakars Film das Publikum in die Lage, die Arbeit der Kontextualisierung und Interpretation selbst leisten zu müssen.
Vanessa Lapas Film DER ANSTÄNDIGE geht in der Beschäftigung mit Himmler einen fast diametral entgegengesetzten Weg. Der Film stützt sich zu weiten Teilen auf private Selbstzeugnisse Himmlers und seiner Familie. Die Provenienz dieser Sammlung ist eine Geschichte für sich. Soweit das rekonstruierbar ist, stammen sie aus dem Privatsafe in Himmlers Haus in Gmünd, wo sie von amerikanischen Soldaten entdeckt und vorschriftswidrig nicht an die entsprechenden Dienststellen weitergegeben wurden. Sie gelangten in eine israelische Privatsammlung und wurden Vanessa Lapas Vater überlassen, verbunden mit dem Auftrag, sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine vergleichbare Überlieferung privater Zeugnisse gibt es von keinem anderen prominentem Täter der Massenvernichtung.
Die Tagebücher und Briefe werden im Film von Tobias Moretti (Himmler) Sophie Rois (Himmlers Frau Margarethe), Morettis Tochter (Himmlers Tochter Gudrun) und anderen nicht so sehr gesprochen, denn als Rollen bewohnt. Auf der Bildebene ist der Film eine „Found Footage“-Montage, die sich auf das Resultat einer intensiven und langjährigen Archivrecherche stützt, und private wie offizielle Filme und Fotografien der Himmlers mit darüber hinausgehendem zeitgenössischem Bildmaterial verwebt.
Als Geschichtsschreibung mit audiovisuellen Mitteln ist der Film schon allein für diese Aspekte der Recherche und Quellenproduktion bemerkenswert, seine Ambitionen gehen aber weit darüber hinaus. DER ANSTÄNDIGE bedient sich der Techniken des Geschichtsfernsehens, stellt diese aber in den Dienst eines Erkenntnisinteresses. Die Montage und digitale Bearbeitung des Archivmaterials, seine akustische Aufladung durch Geräuschkulissen, die das meist tonlose Archivmaterial mehrdimensional werden lassen, die komplexe Montage aus Bild, Ton und Text, zeichnen die Entwicklung einer Person nach, die über den Weg zur Gewalt mit sich und ihrer Zeit ins Reine kommt. Der Film führt Alltagsmomente der Weimarer Republik und ihrer politischen Auseinandersetzungen, mit Briefen und Tagebuchreflexionen zusammen, in denen Himmler sich Sorgen um seine Männlichkeit macht, die ursächlich mit einem virulenten Antisemitismus und einer bizarren Homophobie verbunden sind. Einmal verdeutlich die Montage drastisch, dass Himmler während einer Besichtigung der Vernichtungsstätten mit der Besorgung von Weihnachstgeschenken für sein geliebtes Püppi beschäftigt war. In seinen stärksten Momenten erlaubt das komplexe Gewebe des Films einen Blick, der die Widersprüchlichkeit und den Wahn einer "Weltanschauung" erkennen lässt, gleichzeitig aber deutlich macht, wie Himmler selbst in einer beständigen Bewegung gegen jeden Zweifel liegt. Darauf zielt schließlich der Anstand ab, von dem der Film seinen Titel hat. Heinrich Himmler erscheint nicht als von einer technokratischen Amoral gelenkt, sondern als zur Überzeugung gekommener Vernichtungstäter, dem die "Ausrottung" Quintessenz der Moral eines nach außen abgedichteten Weltbildes geworden ist.
Deutschland 2014, 92 min
Sprache: Deutsch
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Vanessa Lapa
Drehbuch: Vanessa Lapa
Schnitt: Sharon Brook
Verleih: Salzgeber & Company Medien
Darsteller: Tobias Moretti, Sophie Rois, Florentin Groll
FSK: 12
Kinostart: 18.09.2014
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