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Dämonen und Wunder – Dheepan

Jacques Audiards Cannes-Gewinner

Drei Flüchtlinge des tamilischen Bürgerkriegs nehmen die Identität einer toten Familie an, um ein Visum für die Einreise nach Europa zu erhalten. Ihre Namen sind jetzt Dheepan, Yalini und Illayal: eine falsche Familie, die aufbricht um zu einer richtigen zu werden.

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Eine Gruppe von Soldaten zündet einen Berg von Leichen an. Ob die Männer die Mörder sind oder zu den Opfern gehören, ist nicht klar. Einer von ihnen zieht danach seine Uniform aus und geht davon. Der Mann wird sich später den Namen eines Toten geben, DHEEPAN, der mit seiner Familie im Bürgerkrieg zwischen Tamilen und Singhalesen in Sri Lanka getötet wurde. In einem Flüchtlingscamp finden sich eine falsche Ehefrau, die nun Yalini heißt, und ein Waisenmädchen, das zu seiner Tochter Illayaal wird. Mit ihnen zusammen erhält Dheepan politisches Asyl in Paris und findet einen Job als Hausmeister in einer heruntergekommenen Altneubau-Siedlung an der Peripherie, die von einer Gang kontrolliert wird.

Jaqcues Audiards neuer Film DHEEPAN, Gewinner der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen in Cannes, ist ein perfekter Film, ein Meisterwerk, in dem kein Bild überflüssig ist.

Alles ist am Anfang Schrecken, Hass, Trauer und offene Wunde. Dheepan, Yalini und Illayal finden unter Umständen zusammen, für die „höllisch“ ein Euphemismus wäre. Fremdheit bestimmt jeden Blick, schon am Anfang, als die falsche Familie noch in einem Sri Lanka ist, in dem alles Vertraute ausgelöscht erscheint. Yalini läuft durch ein riesiges Flüchtlingslager und klappert Mädchen ab, um eine Waise zu finden, die sie ihrem Ziel näher bringen kann, zu ihrer Schwester nach England zu kommen. Das Mädchen, das gerade ihre echte Familie verloren hat, ist reines Mittel zum Zweck. Dheepan und Yalini brauchen sich gegenseitig, aber ihre Beziehung ist anfangs mindestens von Abneigung geprägt, wenn nicht von Hass und Verachtung. Aber wie schon in DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN ist DÄMONEN UND WUNDER ein optimistischer Film im Geiste des Philosophen Emmanuel Levinas, für den die Verantwortung für den Anderen nicht erst übernommen werden muss: sie obliegt unmittelbar. Das Ziel der falschen Familie ist es von Anfang an, eine richtige zu werden, weil Dheepan, Yalini und Illayal aus einer Hölle kommen, die Subjektivität auslöscht. Wenn sie sich selbst als Subjekte wieder finden wollen, müssen sie Verantwortung für einander übernehmen. Dabei geht es nicht darum, dass sie Verantwortung füreinander übernehmen wollen, im Gegenteil: Alle haben ihre eigene Agenda. Dheepan will vor allem seine Ruhe haben, Yalini will nach London, nur Illayal fordert Verantwortung ein und übernimmt zuerst welche. Sie spricht als Erste Französisch und dolmetscht für die Erwachsenen. In der Schule sagt sie ein Gedicht von Jaqcues Prevert auf, dem der deutsche Titel des Films entnommen ist:

(…)
Dämonen und Wunder
Winde und Gezeiten
Das Meer hat sich schon weit zurückgezogen
Aber in deinen halb geöffneten Augen
Verblieben zwei kleine Wellen
Dämonen und Wunder
Winde und Gezeiten
Zwei kleine Wellen um mich zu ertränken.

Über den erlebten und vergangenen Schmerz reden die drei Gestrandeten nicht miteinander, erkennen ihn aber in Blicken an. Dabei ist DÄMONEN UND WUNDER weniger Sozialdrama als Genrethriller, Gangsterfilm, manchmal sogar eine Comedy of Remarriage, etwa wenn Dheepan die Witze der Kollegen in der Mittagspause nicht versteht, und Yalini später fragt, was das Problem mit dem Humor im Französischen sei, warum er da einfach nicht mitkäme. Das liege nicht am Französischen, sagt sie, du hast einfach keinen Humor, auch nicht auf Tamil.

Stärker noch als in Audiards letztem Film DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN ist DHEEPAN ein Film der körperlichen Erfahrung. Antonythasan Jesuthasan, der Darsteller des Dheepan, wurde mit 16 Jahren von den Tamilischen Befreiungstigern (LTTE) rekrutiert, spielte in Propagandastücken der Guerilla und kämpfte als Kindersoldat. Nach seiner Flucht erhielt er Asyl in Frankreich und arbeitete tatsächlich als Hausmeister, aber auch als Koch, im Supermarkt und als Page im Disneyland bevor er einer der wichtigsten Theater- und Romanautoren der tamilischen Exilcommunity wurde. Anthonythasans massiger, gedrungener, vernarbter Körper besitzt eine unglaubliche Präsenz. Sein Dheepan ist ein Mann, der diesen soldatischen Körper herumschleppt wie eine gerade verheilte Wunde, die jeden Moment in der Lage ist aufzubrechen.

Aber in Audiards Filmen haben nicht nur die Körper eine enorme physische Präsenz. Die Welt, in die er seine Figuren stellt, ist mindestens ebenso körperlich. Das Schlachtfeld, das Flüchtlingslager, die Neubausiedlung an der Peripherie meint man geradezu riechen zu können, gerade weil sie kaum je ganz zu sehen sind. Audiard zerhackt die Welt in Wahrnehmungsfetzen wie in den Filmen des italienischen Neorealismus: jeder Blick ein Schock. Dheepan und seine Familie betreten die ihnen zugeteilte Wohnung, ein heruntergekommenes Drecksloch im Erdgeschoss einer Altbausiedlung: Illayal steht vor einem Loch in einer Rigips-Wand, puhlt ein wenig an der abgerissenen Tapete herum, sie betrachtet den rieselnden Putz. Später liegen falscher Vater und falsche Tochter auf einer alten Matratze nebeneinander, die ungewohnte Nähe zwischen ihnen ist ebenso spürbar wie die feuchte, muffige Kälte, die diese Nähe notwendig macht. Dheepans Arbeit als Hausmeister ist auch eine Rückeroberung des Raumes: er repariert alles, was sich reparieren lässt. In seinem Job macht er sich einerseits unsichtbar und begegnet den überheblichen Gang-Mitgliedern in demütiger Haltung, andererseits wird schon aus der Art, wie er den hinterlassenen Müll beiseite fegt, klar, dass das nicht so bleiben wird.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Dheepan
Frankreich 2015, 100 min
Genre: Drama, Krimi
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Noé Debre
Kamera: Éponine Momenceau
Schnitt: Juliette Welfling
Musik: Nicolas Jaar
Verleih: Weltkino Filmverleih
Darsteller: Vincent Rottiers, Marc Zinga, Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby
FSK: 16
Kinostart: 10.12.2015

Website
IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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