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Crimes Of The Future

Körper-Pop der unmittelbaren Vergangenheit

In der Welt, die David Cronenbergs CRIMES OF THE FUTURE beschreibt, spüren die meisten Menschen keinen Schmerz mehr. Eine Ausnahme ist der Performance-Künstler Saul Tenser (Viggo Mortensen), der ständig an Schmerzen leidet und ständig neue Organe produziert, deren Zweck ungewiss bleibt.

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In der Welt, die David Cronenbergs CRIMES OF THE FUTURE beschreibt, spüren die meisten Menschen keinen Schmerz mehr. Eine Ausnahme ist der Performance-Künstler Saul Tenser (Viggo Mortensen), der ständig an Schmerzen leidet, in einem speziellen Knochenmassage-Bett schlafen und in einem sehr unbequem wackelnden Stuhl frühstücken muss. Seine Kreativität besteht in der permanenten Produktion neuer Organe, deren Zweck ungewiss bleibt. Es seien Tumore, rumort es. Seine Partnerin Caprice (Lea Seydoux), eine ehemalige Trauma-Chirurgin, tätowiert Sauls Organe im Körper und extrahiert Sauls „innere Schönheit“ schließlich mit einer aufwendig umgebauten Autopsie-Maschine während einer Live-Performance. Saul und Caprice sind Superstars der Performance-Kunstszene.

Man merkt Cronenbergs Film an, dass der Regisseur dieses Projekt bereits in den 90er Jahren begonnen hat. Es gibt zahlreiche Bezüge zu älteren Filmen, vor allem zu VIDEODROME (1981), in dem Körper mit Medien (bzw. VHS-Videorekordern) verschmelzen und ein „neues Fleisch“ begründen, und mit DEAD RINGERS (1988), in dem Zwillinge einen Fetisch für mutierte Geschlechtsorgane entwickeln. In den neunziger Jahren wurden die Fantasien aus Cronenbergs früheren Filme immer mehr zur Wirklichkeit. In der Pop-Kultur wurden Tattoos und Piercings zum Kennzeichen von „urban primitives“ erklärt, Body Art und Body Modifications wurden Mainstream, Performance-Künstler wie Flatz, der sich auf einem Berliner Mietshaus kreuzigen und auspeitschen ließ, während ein Hubschrauber eine tote Kuh auf die Straße warf, wurden zu Cover-Stars des „Zeit-Magazins“. Goths lasen Batailles „Erotisme“ und dachten beim transgressiven Vögeln an den Tod.

CRIMES OF THE FUTURE ist also eher ein ironischer Titel. Das „shock value“ der älteren Cronenbergs erreicht CRIMES nicht, aber der Witz, der damals auch durch die Erregung in den Zensurbehörden verdeckt wurde, tritt deutlicher hervor. Es gibt eine Performance eines nicht ganz so großartigen, aber populären Künstlers, der sich hundert Ohren an den Körper nähen lässt, die aber alle nichts hören. Es gibt ein Fan-Archiv, in dem Kristen Stewart als sexy-creepy Mega-Fan davon träumt, EINMAL selbst eines von Sauls Organen zu tätowieren. Es gibt ein lesbisches Mechanikerinnen-Paar, das völlig auf die Autopsie-Maschine abfährt. Ob die Verbrechen der Zukunft wirklich in der Manipulation von Organen und epigenetischen Versuchen mit dubiosen Zwecken liegen, sei mal dahingestellt. Als eine Satire über den Körper-Pop der unmittelbaren Vergangenheit ist CRIMES OF THE FUTURE ungemein amüsant. Dass zu Beginn des Films ein Plastikmülleimer verzehrt wird, ist konsequent.

Tom Dorow

Details

Kanada/Griechenland/Frankreich 2022, 107 min
Sprache: Englisch
Genre: Drama, Science Fiction
Regie: David Cronenberg
Drehbuch: David Cronenberg
Kamera: Douglas Koch
Schnitt: Christopher Donaldson
Musik: Howard Shore
Verleih: Weltkino
Darsteller: Kristen Stewart, Léa Seydoux, Viggo Mortensen, Scott Speedman, Tanaya Beatty
Kinostart: 10.11.2022

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