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Chamissos Schatten: Kapitel 1 Alaska und die aleutischen Inseln

Die ersten drei Stunden der Reise

In ihrem bisher längsten Film reist die Avantgarde-Filmemacherin Ulrike Ottinger ins Beringmeer. Der Real Fiction Verleih bringt die 12-stündige filmische Collage, eine Meditation über Natur und Kultur, Geschichte und Modernität, Kunst und Ethnografie, in drei Teilen ins Kino.

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Ein Blick auf die Reiseroute, bereits vor Monaten auf der Homepage von Ulrike Ottinger veröffentlicht, lässt einen schwindelig werden: Vom 1. Juli bis 7. Oktober zählt man 97 Reisetage, von denen die meisten Drehtage sind, dabei selten mehrere Tage am Stück am gleichen Ort. Eine - wie nicht anders zu erwarten - ambitionierte Exkursion an das Ende der Welt, das Beringmeer, ein fantastisches Entdeckungsland zwischen eurasischem und amerikanischem Kontinent, bereist und beschrieben in Worten und Bildern von einer der radikalsten deutschen Filmemacherinnen. Berühmte Männer waren es, die hier bereits im 18. und 19. Jahrhundert ihre Fußstapfen in Form von Log- und Tagebüchern hinterlassen haben: Adelbert von Chamisso, Georg Wilhelm Steller, Captain James Cook, deren Berichte in Ausschnitten von Hanns Zischler, Burkhart Klaußner, Thomas Thieme gesprochen werden. Daneben und danach führt Ulrike Ottinger eigene Bücher und spricht sie ein, kommentiert, erklärt und verführt auf der Tonspur. Sie, die große Neugierige, die Unerschrockene, die Rastlose, die Kompromisslose, ist im Alter von 73 Jahren aktiver denn je und präsentiert nun CHAMISSOS SCHATTEN, ein Gesamtkunstwerk von 12 Stunden Länge, das in drei Teilen ins Kino kommt und eingangs von ihr selbst als "Kombination von Ethnologischem und Künstlerischem, Vergangenem und Gegenwärtigem" beschrieben wird.

Das Verschmitzte und Verspielte, das das Werk Ulrike Ottingers seit den Anfängen Mitte der 1970er Jahre auszeichnet, blitzt auch hier wieder auf, wenn sie anstatt einer gängigen Computeranimation, die ihre See- und Landfahrt veranschaulichen könnte, ihren eigenen Arm analog über eine alte Landkarte fahren lässt um uns geografisch auf die Reise einzustimmen. Ein wunderbares Do-it-yourself Tableau als Entsprechung für diesen kolossalen Kunstfilm, für dessen Buch, Kamera und Regie sie allein verantwortlich ist.
Was sich fürs Publikum in den ersten drei Stunden des ersten Teils (ALASKA UND DIE ALEUTISCHEN INSELN) nun elegisch entfaltet, lässt sich am besten als filmische Collage beschreiben, die von der ungebrochener Neugier und dem geschulten Blick ihrer Filmemacherin geprägt ist. Die Parameter von Zeit, Chronologie und Kausalitäten interessieren Ottinger dabei immer noch genauso wenig wie dokumentarische Erzählkonventionen, und so beginnt der epische Fluss aus Bildern und Worten schnell zu einer Meditation über Natur und Kultur, Geschichte und Moderne, Kunst und Ethnografie zu werden. Wir sehen durch das aufmerksame Auge der Regisseurin und gucken dabei durch das schwankende Bullauge ihrer Kabine, erkunden in langsamen Schwenks die Meeres- und Berglandschaften, und geben uns in atemberaubenden Totalen der Faszination einer wenig berührten Natur hin.

Daneben wohnen wir immer wieder Begegnungen mit Menschen und ihren Geschichten bei: Fischerinnen aus Alaska, Museumsmitarbeiter und Ethnologinnen, Dorfbewohner und Geistliche, die bereitwillig aus ihrem Leben erzählen und deren Gegenwärtigkeit die Historizität der eingesprochenen Welterkundungen kontrastieren. Wir erfahren aus alten Logbüchern, in welchem Alter und von welchem Geschlecht ein Biber sein sollte, damit sein Fleisch besonders köstlich schmeckt, staunen über die bunt bemalten Geisterhäuser über den Gräbern der indigenen Athabasca, lauschen zwei Frauen beim Gespräch über Lachsfang und erfahren über die verschiedensten Zeiten und Formen der vermeintlichen Zivilisierung eines Flecks Erde, der seit Jahrhunderten vom Zusammenspiel mit der Natur geprägt war. Am Ende der ersten 192 Minuten kommen wir vorerst an, bei einer alten Frau der Yupik-Familie, die von Beeren, Sprachen und ihrem Leben berichtet. Doch die Reise ist noch lange nicht zu Ende und führt uns mit TSCHUKOTKA UND WRANGELINSEL und KAMTSCHATKA UND BERINGINSEL in zwei weiteren Teilen, die in den kommenden Monaten als Teil dieses außergewöhnlichen Mammutprojekts ins Kino kommen, weiter durch die filmische Weltentdeckung der Ulrike Ottinger, deren Betörung man nach den ersten Stunden schon vollkommen verfallen ist.

Toby Ashraf

Details

Originaltitel: Chamissos Schatten: Kapitel 1 – Alaska und die Aleutischen Inseln
Deutschland 2016, 190 min
Sprache: Deutsch, Englisch, Russisch
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Ulrike Ottinger
Drehbuch: Ulrike Ottinger
Kamera: Ulrike Ottinger, Stefan Gohlke
Schnitt: Bettina Blickwede
Verleih: Real Fiction Filmverleih
Darsteller: Burghart Klaußner, Hanns Zischler, Thomas Thieme
FSK: oA
Kinostart: 24.03.2016

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IMDB

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