Andrea Arnold kombiniert in BIRD ihre Herzensthemen und Lieblingsobsessionen. Der Film spielt in einer heruntergekommenen Stadtrandgegend von Gravesend im Norden von Kent, die den urbanen Verfall von RED ROAD oder FISH TANK mit den öden, wilden Hochmoorlandschaften von WUTHERING HEIGHTS verbindet. Ohne die Lebensumstände der Protagonist*innen zu beschönigen, findet Arnold hier eine Art von Poesie und auch ein, wenn auch brüchiges, Gemeinschaftsgefühl. Die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) wohnt in einer Abbruchhaus-Aussteiger-Junkie-WG mit ihrem Halbbruder Hunter (Jason Buda) und Vater Bug (Barry Keoghan), der selbst gerade erst Anfang zwanzig ist und mit dem Kopf in den Wolken hängt. Gerade ist er frisch verliebt und hat den großen Plan, das Sekret einer exotischen Kröte zu verticken, um eine glamouröse Hochzeit zu bezahlen. Zu einem eklektischen Pop-Soundtrack streift Bailey herum, schaut auch bei ihrer Mutter mit den zwei kleinen Halbschwestern vorbei, aber dort im Haus herrscht nicht nur Gleichgültigkeit, sondern Gewalt. Sie driftet weiter und trifft auf einen schlaksigen Mann, der verwirrt wirkt, aber auch harmlos. Bird (Franz Rogowski) trägt einen alten Rock und Strickpullover und ist auf der Suche nach dem zu Hause, in dem er geboren wurde. Erst folgt Bailey ihm heimlich aus Neugier, dann macht sie sich gemeinsam mit ihm auf die Suche. Mehr noch als in AMERICAN HONEY setzt Arnold auf Atmosphäre. Da ist der raue Umgang unter Baileys Mitbewohner*innen, da ist die Weite der Landschaft, in der die Plattenbauten wie Möwenkolonien stehen, oder ein überraschend zarter Moment unter Geschwistern. In Instavideos hält Bailey poesiealbenhafte Alltagsmomente fest, sie filmt aus dem Fenster oder einen Schmetterling. Mit Bird hält ein weiteres magisches Element Einzug in den poetischen Realismus des Settings.

Toni Ohms