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Auge um Auge

Rache und der böse Geist der Berge

Bis in die kleinste Nebenrolle mit Stars besetztes, düsteres Rachedrama um zwei Brüder in einer Stahlarbeiterstadt am Rand der Appalachen.

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Amerikaner geraten nicht vom Regen in die Traufe, sondern aus dem Ofen ins Feuer – out of the furnace and into the fire. OUT OF THE FURNACE ist der Originaltitel des Films AUGE UM AUGE. Der Ofen ist hier auch wörtlich gemeint: AUGE UM AUGE spielt in Braddock, Pennsylvania, einer Eisenhüttenstadt in der Nähe der amerikanischen Stahlhochburg Pittsburgh, und am Rande der mythisch beladenen Bergbauregion des nördlichen Appalachen-Gebirges gelegen. Hauptpersonen sind ein Stahlarbeiter, dessen Bruder, ein Afghanistan-Veteran, und ein ultrabrutaler Hinterwäldler-Gangster. Hier werden keine Kleinigkeiten verhandelt, sondern das Verhältnis der amerikanischen Arbeiterklasse zu denen, die nicht mehr dazu gehören. Kein Wunder, dass der Film bis in die kleinste Nebenrolle mit Megastars des linken Hollywood besetzt ist. Neben Christian Bale, Casey Affleck und Woody Harrelson in den Hauptrollen spielen Sam Shepard, Willem Dafoe und Forest Whitaker nette alte Onkel, sympathische Gangster und Polizisten.
Christian Bale ist Russell Baze, dessen Name bereits darauf verweist, dass er die „Basis“ ist, auf der das Land aufgebaut ist. Ein Arbeiter, der am Hochofen steht und mit ehrlicher, harter Arbeit eine Familie begründen will. Seine Braut Lena (Zoe Saldana) ist Afroamerikanerin, Russel ist also nicht nur Arbeiter, sondern ein Arbeiter, der das moderne, liberale amerikanische Proletariat repräsentiert. Sein Bruder Rodney (Casey Affleck) versucht auszubrechen und wählt den einzigen Weg, der ihm offensteht: er geht zur Armee und wird immer wieder nach Afghanistan geschickt. Ihr Vater stirbt an einer Lungenkrankheit, eine Folge der harten Arbeit im Stahlwerk. Rodney hat gute Gründe, um auszubrechen. Dann geht alles schief. Russell verursacht einen Unfall, bei dem ein Kind ums Leben kommt und landet im Gefängnis. Rodney kehrt schwer traumatisiert aus Afghanistan zurück, seine Spielschulden türmen sich auf, und er beginnt, an illegalen Boxkämpfen teilzunehmen, die von dem väterlichen Gangster John Petty (Willem Dafoe) ausgerichtet werden. Als er dabei auf den Hinterwäldler Harlan DeGroat (Woody Harrelson) trifft, bei dem auch Petty Schulden hat, nimmt das Unheil seinen Lauf. Was folgt, ist eine düstere Rachegeschichte.
Im bedrohlich anschwellenden, orchestralen Soundtrack von Dickon Hinchliffe dreht sich ganz unten, kurz vor der Stille, ein einfaches Banjo-Roll, drei Akkordtöne, die mit Daumen, Zeige- und Ringfinger in der immer gleichen Reihenfolge gepickt werden, wie ein Uhrwerk. Die Grundlage der Appalachenmusik, die zugleich Grundlage des weißen Anteils an der amerikanischen Popmusik ist. Die Geister des alten, unheimlichen Amerika mit seinen Mörderballaden und Henkergebeten erheben das Haupt. In den letzten Jahren zeigt es sich wieder öfter, auch in relativ großen Independent-Produktionen wie zuletzt WINTER´S BONE, aber mit Vorliebe in Horrorfilmen wie WRONG TURN, CABIN FEVER und all den anderen Epigonen von THE EVIL DEAD, dem TANZ DER TEUFEL, der in Deutschland immer noch verboten ist. Die Teufel, die dort beschworen wurden, sind die alten Geister der Berge. Woody Harrelson als Harlan DeGroat ist ihr Erbe. Auch sein Name ist symbolisch. Harlan County war der Schauplatz eines der gewalttätigsten und legendärsten Arbeitskämpfe in den Appalachen in den dreißiger Jahren, des Harlan County War.
In AUGE UM AUGE sind die Enkel der Minenarbeiter zu Crack-, Heroin und Meth-Monstren geworden, den Stadtbewohnern in Braddock droht das gleiche Schicksal. Rodney Baze ist bereits am Rande des vollkommenen Wahnsinns, der ältere Russell wird seinen Lebensunterhalt spätestens verlieren, wenn das Stahlwerk schließt. Die Stadt ist ein verrottender Trümmerhaufen.
AUGE UM AUGE ist nur auf den ersten Blick eine Macho-Rachegeschichte im Geiste der alten Charles Bronson-Filme wie EIN MANN SIEHT ROT. Es geht darum, dass die amerikanische Arbeiterklasse sich aus Verzweiflung selbst zerfleischt und dass die Armen immer noch einen noch Ärmeren finden, den sie verachten können. Am verachtenswertesten ist Harlan, der böse Drogengeist der Berge, aber ausgerechnet der wird vom beliebten Komiker Harrelson gespielt. Der kann nicht anders, als bei aller Widerlichkeit immer noch eine Nummer aus dem Hut zu zaubern, die erzählt: Leute, ich bin´s doch nur, euer guter, alter Kumpel Woody. Hier ist es ein kleiner Jig, den er tanzt, nachdem er sich irgendeine Droge in den großen Zeh injiziert hat. Am Ende des Films bemerkt er, das es Morgen wird und die Vögel singen, und es ist, als hätte jemand den alten Harlan County Song „Which Side Are You On?“ angestimmt. Auf welcher Seite stehen die Leute in diesem Film denn? Eigentlich natürlich auf der gleichen. Und auf alle wartet das Verhängnis.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Out of the Furnace
USA/Großbritannien 2013, 116 min
Genre: Drama, Krimi, Thriller
Regie: Scott Cooper
Drehbuch: Scott Cooper, Brad Ingelsby
Kamera: Masanobu Takayanagi
Schnitt: David Rosenbloom
Musik: Dickon Hinchliffe
Verleih: Tobis Film
Darsteller: Christian Bale, Willem Dafoe, Sam Shepard, Woody Harrelson, Casey Affleck, Forest Whitaker, Zoe Saldana, Boyd Holbrook
FSK: 16
Kinostart: 03.04.2014

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