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Interview

„Wir waren jung und hatten nichts zu verlieren, das machte uns unaufhaltbar.“

Interview mit Robin Campillo zu 120 BPM

Robin Campillo kommt sichtlich abgehetzt zum Interview. Auf dem Weg zum Filmfest in San Sebastián ging sein Gepäck verloren und er musste sich für die Premiere seines Films noch schnell einen Anzug besorgen. Er ist dann trotzdem bester Laune und spricht voller Leidenschaft von seinem Film 120 BPM über die AIDS-Aktivistengruppe ACT UP, zu der Campillo (55) auch selbst gehörte und die Anfang der Neunziger Jahre in Paris mit spektakulären Aktionen gegen die Ignoranz von Politik, Gesellschaft und Pharmaindustrie protestierte. Thomas Abeltshauser hat mit dem französischen Filmemacher gesprochen.

INDIEKINO BERLIN: Nach der Weltpremiere von 120 BPM im Mai in Cannes sind alle begeistert von Ihrem Film, er wurde am Ende mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und geht nun für Frankreich ins Oscar-Rennen. Hat Sie diese Resonanz überrascht?

Ich wollte mit diesem Film unbedingt nach Cannes, weil es das wichtigste Filmfestival ist. 120 BPM sollte die größtmögliche Aufmerksamkeit bekommen, ich wollte ihn im Wettbewerb, damit niemand an ihm vorbeikommt. Aber ich hätte nie diese emotionalen Reaktionen erwartet. Und das machte mir zwischendurch ein bisschen Angst, weil plötzlich nicht mehr der Kampf gegen AIDS, sondern ich im Mittelpunkt stand. Aber mittlerweile ist der Film in Frankreich angelaufen, die Kritiken waren überwältigend und es haben ihn schon über 800.000 Menschen gesehen. Was vielleicht auch auf einem Missverständnis beruht. Viele sagten mir, das wäre ein universeller Film über politischen Ungehorsam und so weiter. Nein! Ich habe die Geschichte einer ganz bestimmten Gruppe von Aktivisten erzählt, und sie reden offen und ausführlich über HIV und AIDS und schwulem Sex. Ich habe nie versucht, den Film „akzeptabel“ zu machen, damit er einer Mehrheit gefällt. Ich habe mich kurz über solche Kommentare geärgert, aber vielleicht ist es ja umgekehrt die Einstellung des Publikums, die sich geändert hat. Die Leute akzeptieren heute Themen und Geschichten, die vor zehn, 15 Jahren noch nicht durchgegangen wären.

Währenddessen rückt die Politik in Frankreich, Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten nach rechts. Wie erklären Sie sich diese beiden gegensätzlichen Phänomene?

Das hatte schon Michel Foucault formuliert: Auf jede starke Bewegung folgt sehr schnell eine Gegenbewegung. Das ist fast eine gesellschaftliche Mechanik. Und ich bin mir sicher, dass 120 BPM so eine Resonanz hervorgerufen hat, weil wir in Frankreich gerade eine politische Wüste haben, niemand weiß mehr, wie man Leute mobilisiert. Die letzte große Protestbewegung in Frankreich war gegen die Gleichstellung der Ehe, völlig reaktionär. Und mein Film hat die Leute wieder daran erinnert, dass es einmal die Unterdrückten und Marginalisierten waren, denen die Straße gehörte. Die Generation der heute unter 25-jährigen kennt kaum noch die Geschichte der Schwulenbewegung. Deswegen ist es so wichtig, daran zu erinnern.

120 BPM handelt von einer Zeit lange bevor das Internet und Soziale Medien unser Leben bestimmten, wo ein „Like“ schon als politische Meinungsäußerung gilt.

Und auch lange bevor den terroristischen Anschlägen. In Frankreich herrscht seit den Anschlägen in Paris im November 2015 der Ausnahmezustand, den der neue Präsident Macron nun in ein Anti-Terror-Gesetz umgewandelt hat. Das Militär gehört längst zum Stadtbild, die Terroristen haben gewonnen. Macron will das Demonstrationsrecht verschärfen, es wird immer schwieriger. Viele sind gegen ihn, weil er das Arbeitsgesetz verschärft und viele soziale Errungenschaften zurücknimmt. Aber kaum jemand geht auf die Straße. Aber ein Kommentar auf Facebook oder ein „Like“ sind eben nicht genug.

Eine Epidemie lässt sich nicht mit moralischen Standards bekämpfen

AIDS hat durch den medizinischen Fortschritt für viele den Schrecken verloren, Kondome gelten dank PreP (Prä-Expositions-Prophylaxe) mittlerweile als optional. War es auch eine Motivation des Films, daran zu erinnern, dass AIDS noch immer eine unheilbare und tödliche Krankheit ist?

Ich wollte nie einen Historienfilm drehen, ich wollte klarmachen, dass er auch uns heute betrifft. Es gibt eine große Verdrängung, was die Gefahr angeht. Für einen Schwulen wie mich, ich bin 1962 geboren, waren Kondome und Safer Sex eine unglaubliche Befreiung. Als uns klar wurde, dass sie schützen, war das wie eine zweite sexuelle Revolution. Ich musste nicht mehr fragen, ob jemand positiv war, ich musste mir keine Sorgen mehr machen. Heute habe ich den Eindruck, dass sie eine Art Feindbild geworden sind, ich habe wirklich Schwierigkeiten, das zu verstehen. Es ist eine großartige Errungenschaft, dass Leute mit Medikamenten unter der Nachweisgrenze und damit praktisch nicht mehr ansteckend sind und das PreP einen ähnlich sicheren Schutz wie Kondome gewährleistet. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die jungen Leute sich dessen bis ins Detail bewusst sind oder es nur oberflächlich als magische neue Freiheit wahrnehmen, ohne sich wirklich zu schützen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Aufklärung verstärken und den Preis für PreP weltweit senken müssen. Aber ich habe diesen Spielfilm vor allem gemacht, weil wir damals unsere Liebhaber, Partner und Freunde verloren haben. Ich wollte zeigen, wie wichtig Solidarität und Zusammenhalt und Zuneigung sind. Das ist alles andere als kitschig, das ist die Basis.

Was muss sich ändern?

Wir müssen wieder viel stärker klar machen, wie wichtig es ist, sich testen zu lassen – und das regelmäßig! Es ist wichtig, dass jeder Mensch seinen HIV-Status kennt, egal welcher sexueller Orientierung. Wer sich heute frisch infiziert, hat eine hohe Chance, mit Medikamenten lange gut zu leben. Das ist der große Unterschied zu der Zeit vor 25 Jahren. Und es gibt großartige Organisationen, die in Saunas, Cruising Bars und so weiter gehen, andere kümmern sich um Prostituierte oder Drogenabhängige. Ohne diese sehr spezifizierten Angebote werden wir scheitern, denn das sind Gruppierungen, die kaum etwas miteinander zu tun haben. In Frankreich gibt es zum Beispiel ein Gesetz, das Männer rechtlich verfolgt, die Dienste von Sexworkerinnen in Anspruch nehmen. Das hat zur Folge, dass Vieles im Dunkel abläuft und damit gesundheitlich riskant ist.

Es ist aber nicht nur eine Rechtsfrage, sie ist moralisch aufgeladen. Denn Menschen, die PreP nehmen, werden schnell als unverantwortlich und Schlampen abgestempelt.

Ja! Aber was gibt es Tolleres, als eine Schlampe zu sein? Eine Epidemie lässt sich doch nicht mit solchen moralischen Standards bekämpfen. Ich bin selbst gern eine Schlampe. Aber wir müssen reden. Als ich Teil von ACT UP war, hatten wir die Regel, dass wir beim ersten Date nach ein paar Minuten über AIDS und unseren HIV-Status reden, um Klarheit zu schaffen. Und all das sollte auch im Film vorkommen, weil das ein Großteil des Publikums nicht weiß. Wir haben die besten Mittel seit dem Aufkommen von AIDS, um die Epidemie einzudämmen, aber wir nutzen sie nicht.

Sechs Jahre lang hatte ich mit niemandem Sex, aus Angst mich anzustecken

Sie sind 1992 ACT UP beigetreten, aus Wut über die allgemeine Ignoranz gegenüber dem Sterben. Wie sind Sie damals mit dieser Wut umgegangen und welchen Einfluss hatte sie beim Drehen des Films?

Die Wut entstand, weil ich zehn Jahre lang nicht verstand, was passierte. 1982 war ich Anfang Zwanzig und ich las den ersten Artikel über AIDS, was damals noch Schwulenkrebs genannt wurde. Es war wie ein Todesurteil und von der Regierung gab es darauf jahrelang null Reaktion. Bis dahin war alles prima. Ich hatte mich wohlgefühlt als Schwuler, ich sah mich in der Tradition von Oscar Wilde und Jean Genet, ich war ein junger Dandy und genoss mein schwules Leben, ohne es jedem zu erzählen. Meine Familie wusste nichts davon, ich war „in the closet“. Aber im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass ich niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen konnte. Der Schrank wurde zur Falle. In dieser Zeit hatte ich meinen ersten Lover, er war bisexuell und schlief mit allen. Irgendwann brach die Krankheit bei ihm aus. Sechs Jahre lang hatte ich danach mit niemandem Sex, aus Angst mich anzustecken. Schließlich musste ich mich fragen: Was tun wir uns da an? Auch das ist ein Grund für diesen Film. Und ich beginne ihn mit einem Foto meines ersten Freundes, der damals an AIDS starb. Mir war egal, was seine Eltern davon halten, es ist unsere Geschichte und ich fühlte mich so hilflos. Viele Menschen waren damals sehr unsensibel. Mein älterer Bruder zum Beispiel machte 1984 noch blöde Witze darüber, dass sein schwuler Kumpel sicher bald abkratzen würde. Niemand scherte sich darum, dass wir alle sterben würden. Natürlich waren wir wütend!

Aber Sie waren lange Zeit eine Minderheit innerhalb der Minderheit. Wie groß war der Widerstand innerhalb der schwulen Szene?

Ein Großteil der Szene leugnete die Epidemie, man wollte sich damit lange Zeit nicht auseinandersetzen. Unsere Aktionen empfanden sie als Angriff, dabei bekämpften wir nicht sie, sondern die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber der Krankheit. Der Skandal war doch, dass sich weder Politik noch Pharmaindustrie ihrer Verantwortung stellten. Und wir machten auch klar, dass jeder Einzelne Verantwortung trägt. Wenn du jemanden ansteckst, bist du verantwortlich. Und deshalb haben wir sie auch nicht in Ruhe gelassen und sie damit konfrontiert, mit Plakaten und Demonstrationen. Aber uns wurde vorgeworfen, wir würden damit moralische Gewalt ausüben, dabei waren es AIDS und die Ignoranz der Krankheit gegenüber, die uns töteten. Wir waren es einfach leid, die armen schwulen Opfer dieser Seuche zu sein, die verrecken und niemanden kümmert es. Wir wollten die Öffentlichkeit aufrütteln und wenn wir damit ein paar schwule Spießer verschrecken, haben wir das in Kauf genommen.

Hunderttausende sind gestorben. Sie haben die Epidemie überlebt. Fühlen Sie eine Verantwortung gegenüber den Opfern?

Dieses Syndrom der Überlebenden, sich schuldig dafür zu fühlen, ist sehr ambivalent. Und es ist ein Unterschied, ob man positiv ist und dank neuer Medikamente ein halbwegs sorgenfreies Leben führen kann oder ob man die Epidemie ohne Ansteckung überstanden hat. Jedes Leben ist individuell. Für mich ist es merkwürdig, älter zu werden. Ich bin jetzt Mitte 50 und es gibt Momente, in denen ich meinen Freunden den frühen Tod fast neide. Ich kann das noch nicht genau erklären, aber es hat vermutlich damit zu tun, dass ich den Eindruck habe, dass sie schon eine Prüfung bestanden haben, die mir noch bevorsteht. Und mir ist völlig klar, dass ich heute in meinem Alter nicht mehr in der Lage wäre, diese Krise durchzustehen. Wir waren damals jung und hatten nichts zu verlieren, das machte uns so unaufhaltbar. Wenn man jung ist, kann man seine Gefühle und Ängste zurückstecken für die Sache.

Jetzt haben Sie einen Film über die Zeit gedreht und machen sich damit erneut angreifbar. Wie haben Sie diese Selbstsicherheit gefunden?


Die Epidemie hat mich lange davon abgehalten, irgendetwas zu tun, geschweige denn Filme. Das Kino erschien mir schlicht nicht relevant im Vergleich dazu. Ich habe lange gebraucht und gekämpft, um stark genug zu sein, als Mensch und als Regisseur, um diese Geschichte zu erzählen. ACT UP hat mir dabei geholfen, ohne dass ich es wusste. Denn AIDS ist kein „Filmprojekt“, aber ich bin daran gewachsen. Bis mir klar wurde, dass ich keinen Film über die Krankheit machen muss, sondern über unseren Kampf dagegen, der uns zusammengeschweißt und stärker gemacht hat.

Wie sehen Sie heute auf diese Jahre zurück?

Ich kann keine Nostalgie empfinden, das ist unmöglich. Aber ich vermisse die Menschen, die ich verloren habe. Ich habe den Film gemacht, um mich von meiner Jugend zu verabschieden. Es war ein wichtiger Prozess für mich.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser