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Feature, Personen

"What's the Story Morning Glory?": Die Filme von Andrea Arnold

Am 13.10. startet Andrea Arnolds neuer Film AMERICAN HONEY. Wir werfen einen Blick auf ihr bisheriges Werk.

Andrea Arnold, geboren 1961, wuchs in einer Sozialwohnung in Dartford, einem Vorort von London auf. Mit 17 begann sie ihre Fernsehkarriere als Tänzerin in der Gruppe Zoo, die regelmäßig bei der BBC-Show „Top of the Pops“ auftrat, kurz darauf wurde sie als die rollschuhfahrende, tanzende und singende „Dawn Lodge“ Ko-Moderatorin in der hyperaktiven Kindersendung „No. 37“. Über ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse spricht Arnold recht gern – sie verleiht ihren Filmen eine Aura von Authentizität und Glaubwürdigkeit. Fragen nach ihrer Pop-Vergangenheit blockt sie dagegen eher ab. Dabei ist es gerade Andrea Arnolds Pop-Sensibilität, ihre Vorliebe für die ganz große Geste, das totale Drama und den Tanz, die ihre Filme aufregender machen als die von realistischen britischen Filmemachern der älteren Generation, etwa Ken Loach und Mike Leigh.

Shorts: Pop, Realismus und die ganz große Geste

Nach einem Studium am American Film Institute in Los Angeles drehte Arnold ihren ersten Kurzfilm MILK (1998) mit 37. In zehn Minuten erzählt sie von einer Frau, die während der Schwangerschaft ihr Kind verliert und sich weigert, an der Beerdigung teilzunehmen, weil sie „noch nicht einmal Hallo“ gesagt habe. Auf der Straße trifft sie einen jungen Herumhänger, macht mit ihm eine Tour in einem geklauten Auto. Sie haben Sex, während im Gegenschnitt der Kindersarg in die Erde heruntergelassen wird. Der Film endet mit Blumen auf dem Kindergrab und der Frau, an deren Brüsten der junge Mann saugt. „My Baby“, flüstert sie. Eine Provokation, eine Pieta, großes Drama und eine Frau, die das junge Proletariat säugt. Der realistische Stil, die Handkamera und das naturalistische Spiel suggerierten Authentizität, aber die Geste geht weit darüber hinaus. Der Historiker Stephen Greenblatt schildert, dass Queen Elizabeth I. sich, als klar war, dass die „Virgin Queen“ keinen Tudor-Thronfolger gebären würde, mit entblößten Brüsten als Mutter der Nation inszenierte. Arnold beginnt ihre Filmkarriere mit der überlebensgroßen Pop-Ikone einer Mutter der Arbeiterklasse, gerade als die in der öffentlichen Wahrnehmung unter New Labour zunehmend marginalisiert und als „Chavs“ diffamiert wurde und die unter Premierminister Anthony Blair beschlossenen Reformen „single welfare mothers“ am härtesten trafen.

In Arnolds zweitem und drittem Kurzfilm, DOG (2001) und WASP (2003), für den Arnold den ersten Oscar gewann, stehen jüngere Frauen aus der Arbeiterklasse im Mittelpunkt. In DOG lernt ein schüchternes Teenager-Mädchen durch einen brutalen Akt ihres „Freundes“ gegenüber einem Hund, sich gegen ihre ebenfalls gewalttätige Mutter zu behaupten. In MILK trifft Zoë, eine alleinerziehende Mutter einen alten Schulfreund und behauptet, nur der Babysitter für eine Freundin zu sein. Zoë ist pleite, kann ihren Kindern nur noch Zuckerreste direkt aus der Tüte zum Essen anbieten und braucht dringend Hilfe. Am Abend lässt sie ihre vier Kinder heimlich vor der Tür des Pubs warten, während sie versucht, Lebensmittel und Getränke aus ihrem Date Dave heraus zu leiern und zu den Kindern zu schmuggeln. Kurz vor einer Katastrophe entdeckt Dave Zoës Geheimnis, alle fahren zu McDonalds und futtern McNuggets. Das ist die Geschichte des weißen Ritters, der die Jungfer erlöst. Aber sie ist aus einer weiblichen Perspektive erzählt, die den Abgrund von Frauen kennt, die vielleicht Intersektionalität nicht buchstabieren können, aber weniger einen männlichen Retter suchen, als einen Weg, um in der Klassengesellschaft zu überleben. Auch hier setzt Arnold ganz auf die bewegende Geste: Daves unerwartete Menschlichkeit und Solidarität, die im Gegensatz zu seiner verächtlichen Bemerkung über die Kinder am Anfang steht („What are you doing with all them fucking kids?“). Aber in WASP gibt es auch Humor, etwa Daves altes Auto, das nie gleich anspringt, Zoës kleine Tochter, die immer, wenn sie Hunger hat, Junk-Food-Werbesprüche aufsagt und die triumphierende Geste im Augenblick der Niederlage, wenn Zoë und ihre Kinder einer besser gestellten Feindin den Finger zeigen.

RED ROAD: Vom beobachtenden zum beteiligten Blick

Der Oscar für WASP öffnete Türen für Arnold, die als nächstes zu dem „Advance Party“-Projekt von Lars von Triers Zoetrope-Studio eingeladen wurde. Für Advance Party sollten drei Debüt Regisseur*innen abendfüllende Filme in Glasgow drehen, in denen acht vorgegebene Charaktere auftauchen sollten. Arnold machte daraus ihren ersten Langfilm RED ROAD (2006). Jackie (Kate Dickie), eine alleinstehende Angestellte eines Security-Firma hat den Job, das CCTV-Überwachungssystem in einem sozialen Brennpunkt Glasgows zu kontrollieren. Auf der Wand von Überwachungskameras sieht sie einen Mann, in dem sie Clyde (Tony Curran) erkennt, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Erst beobachtet Jackie Clyde, verfolgt ihn dann auch persönlich, hat schließlich Sex mit ihm und zeigt ihn danach wegen Vergewaltigung an. Dass Clyde der Mann ist, der vor einigen Jahren Jackies Ehemann und Tochter bei einem Autounfall getötet hat, bei dem Clyde unter Drogeneinfluss stand, erfahren wir spät im Film. Nach der Anzeige wird Jackie in ihrer Wohnung die Kleider ihrer Tochter aus einem Karton holen, Jäckchen und Hose ausgestopft im Arm halten - Die Anzeige zieht sie zurück. RED ROAD ist vor allem ein Film über Wut, weniger über Vergebung, eher über einen Abschluss.

Jackie lernen wir dabei durch ihren Blick auf die Überwachungskameras, die Schwenks und Zooms, die sie steuert, kennen. Ihre Aufgabe ist es, Gefahren zu erkennen, bevor sie in Erscheinung treten. Aber Jackie wird durch ihre Sehnsucht nach Kontakt leicht abgelenkt: von einem Mann, der seinen alten Hund ausführt, von einem verliebten Paar. Jackie ist eine Voyeurin, ihr Blick erinnert an den von Scottie in Hitchcocks REAR WINDOW, aber anders als Scottie ist Jackie auch Voyeurin im Auftrag der Macht. Dadurch ist sie sozial ebenso isoliert, wie durch ihre persönliche Geschichte, ihre unabgeschlossene Trauer. Sie kann niemandem mitteilen, was sie heimlich beobachtet hat. Den Mann mit dem alten Hund würde sie gern ansprechen, aber sie kann ihm nicht sagen, woher sie ihn kennt. In Kontakt mit der Welt tritt sie erst wieder, als sie selbst den Rahmen des Gesetzes übertritt, wobei sie genau darauf achtet, dass die Überwachungskameras ihre Version der Geschichte aufzeichnen. Sie wird zur Regisseurin ihrer Rache vor den Augen des Gesetzes, kann aber schließlich den imaginierten Kamerablick nicht mit ihrem Gewissen und ihrem Schmerz vereinbaren, weil sie zu viel selbst gesehen hat.

Zu nahe sind ihr die Personen gekommen, die in den berüchtigten Red Road-Wohnblocks versuchen, mit dem Leben klar zu kommen. Einmal trifft sie Clyde, dessen Freund Stevie und seine verstrahlte, Freundin April in einem Pub. Es gibt eine Schlägerei, als Stevie seinen Vater trifft. Clyde trennt die beiden, Stevie heult. Später, in der heruntergekommenen Wohnung, in der nur ein paar Matratzen und ein Sperrmüllsofa stehen, wird Stevie fragen, ob April denn der Abend bis zur Schlägerei gefallen hat. Klar, sagt April, „I wish we had money all the time”. Auch RED ROAD ist ein Film über Ausbrüche über die Sehnsucht nach Befreiung und die große Pop-Geste. Auf Clydes Party gröhlen alle – außer Jackie – den Oasis-Hit „Morning Glory“: „What's the story morning glory? Well? Need a little time to wake up, wake up.” Ein optimistischer Song über das allmähliche Aufwachen. Jackies Erwachen bei Andrea Arnold ist ein Pop-Erwachen, ein Hitchcock-Erwachen, ein Heraustreten aus dem bloßen Blick auf die Arbeiterklasse, ein Mitmachen, sich Einmischen, dazu gehören, nicht wie bei Leigh und Loach in einem sozialdemokratisch-politischen, sondern im menschlich-solidarischen Sinne. Deshalb sehen bei Arnold auch die Sozialwohnblocks im Morgenlicht schön aus, wenn die Möwen vorbeiziehen. Andrea Arnolds Blick ist ein beteiligter, involvierter Blick, nicht nur einer, der herzliche Anteilnahme bekundet.

FISH TANK: Energie und Melancholie

Das ist auch in ihrem zweiten Film FISH TANK (2009) so, der fast vollständig die Perspektive der 15-jährigen Mia (Katie Jarvis) übernimmt. Mia will Tänzerin werden, streitet sich mit ihrer Mutter, tanzt, verliebt sich in Conor (Michael Fassbender), den neuen Freund ihrer Mutter, findet heraus, dass der schon eine Familie in einem etwas besseren Stadtviertel hat und will sich rächen. FISH TANK beginnt damit, dass Mia ihrer ex-besten Ex-Freundin mit einem Kopfstoß die Nase bricht. Aber wenn Mia tanzt, wenn sie durch ihr Viertel läuft, ist das im schönsten Abendsonnenlicht gefilmt. Die Bilder, die Arnold mit ihrem Kameramann Robby Ryan einfängt, erinnern immer wieder an die melancholischen und verstörenden Gemälde des 2011 für den Turner-Preis nominierten George Shaw. Shaw malt die Orte seiner Jugend, das Sozialbauviertel Tile Hill in Norfolk, in Humbrol-Modellbaufarben, die eigentlich vor allem für die Bemalung von Airfix-Modellen benutzt werden. Seine menschenleeren Bilder zeigen Orte, an denen Jugend stattgefunden hat, romantische Orte wie die Ecke mit dem Hundehaufenmülleimer, das öffentliche Klo, die Bushaltestelle, den Zaun, hinter dem geheime Dinge geschahen, die Wand, vor der niemand Fußballspielen durfte, und es alle taten. Mias Leben spielt sich an Orten ab, die von außen kalt und abweisend wirken – leere Wohnungen, in die sie zum Tanzen einbricht, Brachen, Parkplätze. Es sind aber auch Räume, in denen sich Möglichkeiten eröffnen, in denen sich Leben real entfaltet. In Erinnerung bleibt von FISH TANK vor allem die Energie, mit der Mia tanzt, ihre Kraft, ihr Willen sich ein besseres Leben zu erzwingen, die Unmittelbarkeit, mit der sie sich in ihre Gefühle stürzt. Wenn der Film gegen Ende einen Ausflug ins Thriller-Genre macht, wirkt das weniger glaubhaft als die sinnliche, körperliche Energie, die Arnolds Bilder und ihre Darsteller ausstrahlen.

WUTHERING HEIGHTS: Teenage Drama Overkill

Andrea Arnold mag ihren Film WUTHERING HEIGHTS nicht. Sie sei an einem „dunklen Ort“ gewesen, als sie den Film gedreht hat. Aber dass sie sich dieser überdrehtesten, exzessivsten aller Teenager-Romanzen der Literaturgeschichte annehmen musste, war konsequent. Die exzessive Energie und emotionale Intensität, die Mia in FISH TANK zeigt, inkarniert sich im Roman von Charlotte Brontë, die ja selbst in einer Art Aquarium aufwuchs, wie kaum sonst irgendwo in der Literaturgeschichte. Hier gibt es eigentlich alles, was Arnold liebt: die Schönheit der abweisenden Landschaft, die überschäumende Leidenschaft, eine Energie, die einen Ausweg sucht. Nur gibt es in WUTHERING HEIGHTS keinen Ausweg. Es ist der erste Film vom Andrea Arnold, in dem eine Hauptperson stirbt. Vielleicht hasst sie ihn deshalb, denn eigentlich geht es ihr ums Überleben. In Arnolds Version gibt es einen schwarzen Heathcliff (Solomon Glave/James Howson), das Anwesen der Earnshaws ist eine mickrige, heruntergekommene Kate im Matsch. Mindestens die junge Cathy (Shannon Beer) ist um einiges handfester als in früheren Verfilmungen, die Einsamkeit und Abgeschlossenheit der Welt von Cathy und Heathcliff zeigt sich bis in das beengte 4:3 Standard-Filmformat, in dem selbst Landschaftspanoramen wie eingekerkert wirken. Die Kraft, die sonst in Arnolds Filmen ganz nach außen gerichtet ist, bleibt hier den Gefühlen vorbehalten, die sich nicht artikulieren können. Das führt natürlich in den Teenager-Tod. Die große Geste führt zu blutenden Schädeln. WUTHERING HEIGHTS ist atmosphärisch dicht, aber so dicht, dass nicht nur Cathy daran erstickt. Es wurde Zeit für Andrea Arnold, zu einer freieren Form des Filmemachens zurückzukehren. In AMERICAN HONEY arbeitet sie, wie in FISH TANK, wieder mit Laien zusammen und begibt sich tatsächlich mit ihnen auf einen Road Trip, eine Filmarbeit, die ihrem Prinzip des involvierten Blicks mehr entspricht.
Tom Dorow