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Noir: die Dunkelheit des Geistes

Partho Sen-Gupta über SUNRISE

Partho Sen-Gupta, geboren 1965 in Mumbai, begann als Szenenbildner für Bollywood-Produktionen und arbeitete als Art Director und Set Designer bei indischen Spielfilmen und Werbespots. Nach einem Regiestudium in Paris drehte er seinen ersten Spielfilm HAVA ANEY DEY – LET THE WIND BLOW, der 2004 auf der Berlinale Premiere hatte. Nach THE WAY OF BEAUTY, einer Musikdoku über die Jazz-Raga-Kooperation zwischen dem Gitarristen John McLaughlin und der indischen Band Shakti ist SUNRISE sein zweiter Spielfilm. Tom Dorow hat für INDIEKINO BERLIN mit Partho Sen-Gupta über seinen neuen Film gesprochen.

Sehen Sie SUNRISE eigentlich als einen Noir-Film?

Ja, sicher. Ich sehe ihn auf traditionelle Weise als Noir, nicht nur als ästhetisch Noir. Er ist Noir, weil das Thema Noir ist. Für mich ist Noir etwas, was ich als Kind gelesen habe: Die amerikanischen Soldaten kamen als Helden nach Hause, und plötzlich war der Krieg vorbei, und dann waren sie auf einmal keine Helden mehr, sondern Männer ohne Arbeit. Viele sind vom Krieg traumatisiert und zu Hause herrscht Depression. Sie finden keine Arbeit, sie finden sich in ihren Familien nicht wieder zurecht. Und dann gibt es diese ganzen Geschichten von Männern, die ins Verbrechen abrutschen und zerbrechen. Für mich geht es um dieses Verständnis von Noir, nicht um diese Plastik-Idee davon. Vieles wird heute Noir genannt, weil es in der Dunkelheit gefilmt ist, aber das ist „Plastik“, künstlich, da geht es nicht um die Story.

Einen Schatten kann man nicht dingfest machen

SUNRISE ist zwar auch zu großen Teilen nachts gefilmt, aber er sieht nicht wie ein klassischer Noir-Film aus. Was sind denn Ihre filmischen Einflüsse für diesen Film?

Als ich angefangen habe an SUNRISE zu arbeiten, ging es mir darum, was sich im Kopf der Hauptperson abspielt: Da ist ein Mann, der seine Tochter verloren hat, und er weiß, dass er sie nie wiederfinden wird. Die Frage ist, ob wir als Menschen den Schmerz überwinden können, indem wir im Geist die gerechte Gesellschaft erschaffen, nach der wir suchen. Denn der Geist ist in diesem Schmerz und dieser Trauer so fruchtbar, dass er ein alternatives Universum erschaffen kann, das eine gerechte Welt wäre.
Es ging mir auch um das Gefühl des Verlusts von Männlichkeit. Der Mann ist Polizist, ein Repräsentant des Staates, ein Mann von Law and Order. Und er verliert sein Kind und kann es nicht wiederfinden. Was ich schaffen wollte, war ein Gefühl für das, was im Kopf dieses Mannes vor sich geht. Nicht nur im Bild, es geht auch um den Ton. Ich benutze den Ton sehr viel, denn ich glaube, dass psychisch kranke Menschen eine veränderte Subjektivität haben. Sie sehen und hören die gleichen Dinge, aber die Wahrnehmung ist anders. Wenn sie in einem Café sitzen, hören sie die gleichen Geräusche, aber sie bewegen sich in einem alternativen Raum. Das ist für mich Noir: die Dunkelheit des Geistes. Das wollte ich in diesem Film erschaffen.

Das ist schon in den ersten Szenen zu spüren, wenn Joshi im Büro auf der Tischplatte schläft, und vom Chai-Wallah geweckt wird, aber nur seine Kollegen bekommen wirklich einen Tee. Ganz offensichtlich misstraut Joshi allen im Raum. Es gibt keinerlei Bezug zwischen ihm und seinen Kollegen, keine Freundschaft, nichts, und er bekommt nie seinen Tee.

Genau. Aber um noch mal auf die Frage nach den Einflüssen zurückzukommen: Als ich den Film geschrieben hatte und darüber nachdachte, wie ich das materiell umsetzen konnte, habe ich mir viele Sachen noch einmal angesehen, die ich eigentlich schon kannte. Ich habe mir Dreyer noch einmal angesehen, Fritz Langs M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, THE THIRD MAN...
Erst sollte Joshi einen Mann jagen, der verschwindet, wieder auftaucht und wieder verschwindet. Später kam für mich die Idee mit dem Schatten hinzu. Ich fand, dass das keine reale Person sein sollte.

Ein Phantom…

Es sollte nur ein dunkles Bild unserer Gesellschaft sein. Es ist gesichtslos. Wenn ich ihm ein Gesicht gegeben hätte, hätte das gesagt: so sehen also schlechte Menschen aus. Wenn man dem Bösen ein Gesicht gibt, liegt die ganze Aufmerksamkeit auf diesem Gesicht. Also war es für mich ein Schatten, wie in VAMPYR oder NOSFERATU, wo der Schatten unheimlicher ist als die Person, die den Schatten wirft. Denn ein Schatten kann seine Form verändern, kleiner oder größer werden. Einen Schatten kann man nicht dingfest machen, aber genau das tut Joshi. Wenn man eine Ungerechtigkeit erlebt, will man jemanden finden, der verantwortlich ist. Als Menschen haben wir ein immanentes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Wenn jemand uns dies antut, tun wir ihm das an, und dann hat man eine Art Abschluß (closure). Gerechtigkeit, das bedeutete einmal: Auge um Auge.

Joshi ist für diese subjektive Welt verloren

Glauben Sie denn, dass es so etwas wie einen imaginären oder sogar psychotischen Abschluß geben kann?

Ich spüre, dass Menschen, die extrem depressiv werden, nach einer Art von Abschluß in ihrem Geist suchen, und indem sie das tun, koppeln sie sich von unserer alltäglichen Subjektivität ab. Ich weiß nicht, aber das war es, woran ich mich annähern wollte. Kann man es schaffen? Ich glaube, eventuell kann man das tatsächlich, der menschliche Geist kann das. Und indem man dahin geht, bewegt man sich in einen anderen Raum, und ist für diese subjektive Welt verloren.

Sobald Joshi sein Büro verlässt, betritt er immer neue, labyrinthische Welten. Er überquert immer wieder Schwellen, hinter denen sich neue Alpträume verbergen.

Er versucht immer, die Situation zu verändern und seine Subjektivität verändert sich dabei. Ich benutze diese Idee eines endlosen Tunnels. Er fährt und fährt, ohne zu wissen wohin er fährt, und er fährt unter einer Brücke durch und die Zuggeräusche werden plötzlich zu etwas anderem, so wie das Geräusch seiner Scheibenwischer zu seinem Herzschlag wird. Er geht ins Büro, macht seine Arbeit, aber im Moment in dem er das Büro verlässt… Jemand, der den Film gesehen hat, hat mir gesagt, dass er glaubt, Joshis Haus würde nicht existieren. Sobald er das Büro verlässt, geht er in seine Welt. Das Haus existiert nicht mehr, die Tochter ist weg, die Frau ist nicht mehr da, alles ist weg, es ist eine Ruine. Nur in seinem Kopf besucht er diesen Ort noch, es ist wie ein Spuk. So hat der Zuschauer das gesehen. Für mich ist es so, dass all diese Orte existieren oder existiert haben, aber an verschieden Stellen in seinem Kopf ihren Platz haben.

Lesen Sie viel Borges?

Nein. (lacht)

Ich hatte gedacht, das würde passen, weil der Film so seltsam verschachtelt komponiert ist.


Nein, aber seit ich ein Kind bin, leide ich nachts unter Schlafparalyse. Das ist eine sehr häufige Krankheit, viele Menschen leiden weltweit daran. Im Mittelalter nannte man es einen Sukkubus, eine Kreatur, die sich auf den Brustkorb setzt und einen lähmt. Denn im Prinzip ist es das, was in der Situation passiert: Du kannst nicht atmen, du fühlst dich gelähmt. Es ist ein halbwacher Traumzustand, in dem man unzusammenhängende Bilder sieht, die vollkommen verrückt aussehen. Es passiert nichts wirklich Schlimmes. Man leidet während des Traums aber es hat keine gesundheitlichen Folgen. Als ich klein war, habe ich massiv darunter gelitten. Sie haben alles Mögliche versucht, um mich zu heilen. Mit der Zeit habe ich gelernt, das zu kontrollieren. Manchmal habe ich sogar versucht, tiefer in den Zustand hinein zu gehen.
Ich glaube, diese unzusammenhängende Erzählweise stammt von diesen Träumen, die ich früher hatte. Wenn man die ganzen Wendungen wegnimmt, ist das aber eigentlich eine sehr lineare Story: Joshi geht ins Büro, er geht zurück, seine Frau ist da, seine Tochter ist jetzt siebzehn, irgendwelche Leute halten diese Mädchen gefangen, es gibt da dieses Bordell hinter einem Tanz-Cabaret. Aber es geht darum, wie Joshi das alles sieht, und das macht den Film aus. Es ist eine heroische Geschichte, aber sie findet im Kopf einer Person statt. Ich habe das oft durchlebt. Denn in unserem Leben erleben wir viele Misserfolge und ich träume dann auch immer, dass ich dies oder jenes hätte tun sollen, dass ich so und so in diese Geschichte hereingeraten bin.

Die psychologische Erfahrung von Trauer, Schmerz und Kino

Ich habe gelesen, dass Sie auch einen persönlichen Bezug zur Geschichte von SUNRISE haben. Sie haben als Kind einen Entführungsversuch erlebt?

Dadurch bin ich überhaupt erst auf die Geschichte gekommen. Meine Partnerin war mit meiner Tochter schwanger und ich musste damit klar kommen, Vater zu werden. Währenddessen kamen eine ganze Reihe von Ängsten hoch. Ich erinnerte mich dann plötzlich an etwas, das ich vergessen, oder verdrängt, oder irgendwo in meinem Kopf verstaut hatte. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und spielte mit meinen Freunden und dann kamen Männer, hoben mich hoch und wollten mich mitnehmen. Ich habe geschrien, und meine Freunde schrien ebenfalls, die Männer brüllten und zerrten, und ein paar Arbeiter oder Typen kamen von nebenan aus einem Gebäude gerannt und die Männer warfen mich auf den Boden und rannten weg. Ich habe erst später begriffen, was passiert war. Meine Freunde witzelten herum, wie Jungs das so machen: „Die hätten dich mitgenommen und dir die Hände gebrochen und du würdest vor einem Tempel betteln“. Als ich ein Kind in Indien war, gab es viele solche Leute, man sah diese behinderten Bettler, Menschen ohne Hände…

Wie in SLUMDOG MILLIONAIRE…


Ja, dort soll der Junge geblendet werden. Ich glaube, dieses Trauma blieb in meinem Kopf und es kam zurück, als ich Vater wurde. Ich fing ich an zu recherchieren und fand diese irrsinnigen Zahlen. Als ich anfing zu recherchieren hieß es, dass jedes Jahr 60.000 Kinder vermisst werden. Als der Film fertiggestellt wurde, gab es einen neuen Bericht, indem von 100.000 Kindern die Rede ist. Das ist gewaltig. Ich habe auch viel darüber recherchiert, was in anderen Ländern passiert, in Thailand, in den USA, wo Migrantenkinder verschwinden. Es ist ein großes Problem. Ich wollte also einen Film darüber machen, aber keinen sozialem Realismus.

Obwohl es in SUNRISE auch Elemente von sozialem Realismus gibt. Es gibt Hinweise auf Korruption und organisiertes Verbrechen, und die Geschichte der Mädchen ist realistischer als Joshis Geschichte.

Weil ich diesen Kontrapunkt brauchte. Joshis Geschichte findet in seinem Kopf statt. Die Geschichte der Mädchen war vielleicht ein Traum, den Joshi von seiner Tochter hat. Aber er musste anders als die anderen Träume sein. Er sollte sich beinahe echt anfühlen, das ist tatsächlich eher sozialer Realismus. Aber was ich nicht wollte, ist in irgendeiner Weise zu predigen, wie in diesen social commentary Filmen, die von der Sowjet-Ära inspiriert sind.

Die Klassiker des indischen Parallel Cinema…

In den siebziger und achtziger Jahren gab es viele Filme dieser Art in Indien, die von Propagandafilmen inspiriert waren, in denen ein Mann sich erhebt und die Welt verändert. Und am Ende liegen ihm alle zu Füßen, dem social hero. Sowas wollte ich nicht machen, ich wollte, dass die der politische Kommentar hinter der psychologischen Erfahrung von Trauer, Schmerz und Kino zurücksteht. Ich wollte die Mittel des Kinos benutzen: Ton, Licht…

Das Licht ist grandios. Ich finde es fantastisch, wie hier Räume und Stimmungen aus Licht geschaffen werden.

Dafür ist natürlich auch mein Kameramann verantwortlich, aber ich habe früher als Art Director für Filme und Werbespots gearbeitet. Neulich hat mir jemand gesagt, man könne ein Einzelbild aus meinem Film nehmen und es sähe komponiert aus. Und natürlich ist es komponiert. Ich war ziemlich schwierig mit den anderen kreativen Mitarbeitern, dem Art Director und dem Kostümbildner, weil ich eine genaue Vorstellung davon hatte, wie alles aussehen sollte. Die Korridore… manche haben nicht gleich verstanden, was das bedeuten sollte. Es sollte tiefer und tiefer in die Dunkelheit gehen. Zuerst ist er in diesen Straßen, die zum Club Paradise führen, er rennt durch enge Gassen, er kommt zur Tür des Paradise, die Tür öffnet sich, er geht den roten Korridor hinunter, und er kommt in diesen engen Raum voller Leute und am Ende ist da diese hell erleuchtete Bühne. Hinter der Bühne ist dann tatsächlich noch ein Tunnel…

Der Tunnel ist natürlich der Moment, indem wirklich deutlich wird, dass es ab diesem Punkt definitiv keine realistische Erzählung mehr ist, sondern dass es tief in eine andere, psychische Welt geht.

Genau. Ich habe mir auch die Frage gestellt, ob das noch glaubhaft ist. Kann man das glauben, dass er da einen Tunnel hinab klettert? Aber ich glaube es funktioniert, weil man versteht, dass es um etwas geht, das sich in seinem Kopf abspielt.

Ich habe darüber nachgedacht, ob Joshi nicht von Anfang an tot ist, was ja ein typisches Motiv in Noir-Filmen ist.

Klar. Deshalb gibt es die erste Szene mit dem Kind in seinem Schoß. Jemand anderes hat gesagt: Ach so, er blickt aus dem Fenster und der ganze Film ist seine Angst, seine Vorstellung. Das ist auch eine interessante Idee.

Sein Kind zu verlieren ist die ultimative Angst von Eltern.


Ja, absolut. Als Vater ist das meine größte Angst, und aus dieser Angst ist der Film entstanden.

Das Interview führte Tom Dorow

Tom Dorow