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„Man kann sich die Situation nicht anschauen, ohne wütend zu werden“

Interview mit Ken Loach zu ICH, DANIEL BLAKE

Ken Loach, geboren 1936, ist einer der renommiertesten britischen Filmemacher, und einer der politisch engagiertesten. Sein Film KES (1966) gilt als einer der besten britischen Filme aller Zeiten. Nach THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY (2006) ist I, DANIEL BLAKE der zweite Film, mit dem Loach die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes gewonnen hat. Thomas Abeltshauser hat für INDIEKINO BERLIN mit Ken Loach gesprochen.


INDIEKINO BERLIN: Mr. Loach, um ehrlich zu sein: Wir waren ein bisschen verwirrt. Sie hatten 2013 angekündigt, keine Filme mehr zu machen. Und jetzt machen Sie doch noch einen, Ihren Fünfzigsten, und gewinnen damit auch noch die Goldene Palme in Cannes.

Ken Loach: Ja, es war ein bisschen albern, das damals so heraus zu posaunen. Das würde ich heute nicht mehr sagen. Lassen Sie es mich erklären. Wir drehten damals JIMMY’S HALL und ich war 18 Monate weg von zuhause. In meinem Alter ist das eine sehr lange Zeit. Ich war müde, meine Augen wurden schlechter. Aber nach dem Dreh war ich gerade mal eine Woche wieder in meinen eigenen vier Wänden, als Paul Laverty anrief, mein langjähriger Drehbuchautor, und mich fragte, was ich so vorhabe. Wir plauderten ein bisschen, ein führte zum andern und schlussendlich drehten wir wieder einen Film.

Es ist ein kämpferischer, anklagender Film geworden über das britische Sozialsystem. War Wut auch eine Motivation?

Man kann sich die Situation nicht anschauen, ohne wütend zu werden, ohne sich darüber aufzuregen, wie mit Menschen umgegangen wird. Als wir anfingen, uns gegenseitig Zeitungsartikel und Nachrichten zu schicken, wurde schnell klar, dass es hier ein Problem gibt. Wir begannen, in Städte und kleinere Ortschaften zu fahren und überall bot sich uns ein ähnliches Bild. Wir trafen Menschen in ärmsten Verhältnissen, die für ihr Essen bei karitativen Tafeln anstehen. Und gleichzeitig wurden in den letzten Jahren zwei bis drei Millionen Sozialhilfeempfänger in Großbritannien dafür bestraft, dass sie irgendwelche absurden Auflagen nicht erfüllt haben. Die Zahl müssen Sie sich mal vorstellen! Ihnen wurde die Unterstützung entzogen, die sie für Nahrung, Unterkunft und Heizung brauchen. Und niemand redet darüber, es wird unter den Teppich gekehrt.

I, DANIEL BLAKE wirf einen sehr authentischen Blick auf soziale Ungerechtigkeit, zugleich gibt es immer wieder Szenen, die zu Tränen rühren. Wie schaffen Sie die Balance zwischen Aufklärung und Emotionalität?


Paul und ich haben zusammen recherchiert, aber die Charaktere und die Handlung hat er geschrieben, auch wenn ich immer wieder Anmerkungen gemacht habe. Wenn man sich die absurde Situation bewusst macht, hat es erst einmal etwas Komisches. Die Fragen, die gestellt werden, die ganze Bürokratie ist eigentlich lächerlich. Aber natürlich ist es, wenn man es am eigenen Leib erlebt, wahnsinnig frustrierend. Und dieser Frust wird zu Verzweiflung und daraus wird Zerstörung. Wir folgten also nur dem Lauf der Dinge. Und als wir uns die Charaktere überlegten, waren wir uns auch absolut im Klaren darüber, dass wir keine offensichtlichen Opfer zeigen wollten. Wir wollten zwei Hauptfiguren, die positiv sind, die etwas leisten und beitragen wollen. Daniel hat Talent, er ist unter seinen Arbeitskollegen geschätzt und beliebt, er ist intelligent und steht mit beiden Beinen im Leben. Aber selbst er gerät unter die Räder. Und Katie ist voller Energie, sie zieht allein zwei Kinder groß und absolviert ein Fernstudium an der Open University. Sie ist ein heller Kopf, warum sollte sie in dieser Situation sein? Aber eins führt zum andern und am Ende wird ihr Körper zur Ware. Es ist die einzige Chance, die ihr bleibt. Und das ist weder von uns erfunden noch ein Einzelfall. Im Guardian konnte man erst kürzlich wieder von einem ganz ähnlichen Schicksal lesen. Es gibt Hunderte solcher Geschichten. Und viele sind so unglaublich, dass wir sie nicht verwendet haben, weil es uns niemand abgenommen hätte. Man kann wirklich nur den Kopf schütteln, wenn es nicht so traurig wäre.

Alle bleiben unter sich und damit schwach.

Das Komische ist auch im Film enthalten, im Drehbuch, aber auch in der Besetzung Daniel Blakes mit Dave Johns, einem britischen Comedian. Hatten Sie ihn von Anfang an im Hinterkopf?

Nein, gar nicht. Wir haben uns alle möglichen Darsteller angeschaut. Aber ich mag Komödianten, weil sie, zumindest in Großbritannien, oft stark in der Arbeiterklasse verwurzelt sind. Der beste Humor entsteht bei uns durch Widerstand, Armut und sich durchschlagen müssen. Dave ist nicht nur sehr witzig, sondern kommt auch genau aus der Stadt, in der unser Film spielt. Er ist im passenden Alter und sein Vater war Handwerker, wie die Figur, die er jetzt spielt. Er ist in einer Sozialwohnung aufgewachsen, er kennt also den Kontext sehr genau. Es war einfach eine glückliche Fügung.

Die Sozialsysteme sind gerade europaweit auf dem Prüfstand, auch in reichen Ländern wie Deutschland oder der Schweiz. Für rechte Parteien scheint es ein gefundenes Fressen, diese Bürokratie als wertlos und überflüssig abschaffen zu wollen.

Ich halte das sogar für gewollt. Die Bürokratie ist nicht effizient, nicht weil man es nicht besser kann, sondern um Menschen zu erniedrigen und ihnen zu zeigen, dass sie an ihrer Armut selbst schuld sind. Wenn sie keine Arbeit haben, liegt es an ihnen, nicht am System. Die Medien tragen zu diesem Bild bei. Schauen Sie sich all die Fernsehshows an, in denen sich über Menschen lustig gemacht wird, weil sie angeblich zu fett sind, zu viele Drogen nehmen oder zu viele Kinder haben. Aus Armut wird Comedy. Es gibt sogar einen Begriff dafür: Poverty Porn. Es ist ein ganzes Fernsehgenre, das nur dafür da ist, Leute zu demütigen. Und wenn alle glauben, dass die Unterschicht selbst schuld ist, werden diejenigen, die es wirklich zu verantworten haben, nicht mehr zur Rechenschaft gezogen: die globalen Konzerne, die billige Arbeitskräfte und niedrige Steuern brauchen. Und darauf fußt der Neoliberalismus: Dass die Leute sich nicht mehr aufraffen, ihre Rechte einzufordern.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Film?

Ach, am Ende ist es nur das: ein Film. Es ist keine politische Bewegung. Ich hoffe natürlich, dass er Leute zum Nachdenken bringt. Vielleicht macht er ein paar Menschen wütend, hoffentlich reden sie über das, was gerade passiert. Und vielleicht motiviert es ein paar zu kämpfen. Aber man muss vorsichtig sein. Sie haben gerade ein Problem in Deutschland mit Wutbürgern. Aber ihre Wut richtet sich an die Falschen. So kam Hitler damals auch an die Macht. Aber es sind nicht die Armen, die Flüchtlinge, bestimmte Ethnien oder Religionen, die schuld sind. Damals waren es die Juden, heute sind es die Muslime. Trump ist ein klassisches Beispiel dafür.

Mit Ihren Filmen kämpfen Sie seit Jahrzehnten gegen soziale Ungerechtigkeiten. Fühlen Sie sich angesichts der Entwicklungen bisweilen wie Don Quixote in seinem aussichtslosen Kampf gegen die Windmühlen?


Wir machen doch nur Filme. Aber die Situation überrascht mich natürlich nicht, das ist die Natur des Kapitalismus. Es ist die logische Konsequenz dessen, was Thatcher in den Achtzigern angestoßen hat. Seit Ihrem Antritt 1979 herrscht Massenarbeitslosigkeit in Großbritannien, das wurde auch bei Blair nicht anders. Das Problem war und bleibt, dass die Linke so fragmentiert und zerstritten ist. Jeder kämpft in einer kleinen Nische, für Obdachlose, Behinderte, Kinderarmut, was auch immer. Aber niemand organisiert sich im größeren Stil. Alle bleiben unter sich und damit schwach.

Stecken Sie Hoffnungen in die Jugend?

Oh, die junge Generation ist großartig! Von Occupy bis UK Uncut. Sie haben einen frischen, unschuldigeren Blick. Die Älteren haben sich mit den Umständen arrangiert, sie nehmen es hin. Aber die Jungen wollen so nicht leben und begehren dagegen auf. Und sie schaffen es, zu mobilisieren. Das macht mir Hoffnung. So viele sind frustriert und apathisch, machen nichts und wählen dann Rechtspopulisten.

Sie sind diesen Sommer 80 geworden und strahlen eine Energie und einen Kampfgeist aus, der schon vielen 40-jährigen abgeht. Woher nehmen Sie das? Und denken Sie, wie schon einmal angedroht, tatsächlich ans Aufhören?

Ich kann wirklich nicht sagen, wie es weitergeht. Ich lasse es mal auf mich zukommen und entscheide dann. Aber ganz ehrlich: Alles ist einfach, außer dem Dreh selbst. Wenn der nicht wäre... Der einzige Moment, wenn ich mich ernsthaft frage, was ich hier gerade tue, ist bei Dreharbeiten, wenn um 6 Uhr morgens der Wecker klingelt.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser