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Interview

Familie ist ein totalitäres Regime

Interview mit Asia Argento

Asia Argento ist die Tochter des Horror- und Giallo-Regisseurs Dario Argento und der Schauspielerin Daria Nicolodi, die in zahlreichen Filmen Argentos auftrat, unter anderem auch in seinen Meisterwerken SUSPIRIA und INFERNO. Weil die römische Stadtregistratur den Namen „Asia“ nicht akzeptierte, wurde Asia Argento als „Aria“ in das Geburtsregister eingetragen. Ihr Debüt als Schauspielerin hatte Asia mit zehn Jahren in dem von ihrem Vater produzierten Horrorklassiker DEMONI 2. Argento spielte zunächst in zahlreichen italienischen Produktionen, ab 1998 trat sie aber auch in internationalen Filmen als Schauspielerin auf, unter anderem in Abel Ferraras NEW ROSE HOTEL (1998), Patrice Chéreaus LA REINE MARGOT/DIE BARTHOLOMÄUSNACHT (1995), in George A. Romeros LAND OF THE DEAD (2005) und in Sophia Coppolas MARIE ANTOINETTE. Immer wieder spielte Asia in den Filmen ihres Vaters, unter anderem in THE STENDHAL SYNDROME (1996), LA TERZA MADRE/MOTHER OF TEARS und in DRACULA 3D. INCOMPRESA/MISUNDERSTOOD ist ihr dritter Langfilm als Regisseurin.

INDIEKINO BERLIN: Ihr neuer Film MISSVERSTANDEN handelt von einem neunjährigen Mädchen namens Aria und seinen selbstbezogenen Künstlereltern. Inwieweit entspricht diese Kindheit in den 1980er Jahren Ihrer eigenen als Tochter eines berühmten Regisseurs und einer Schauspielerin?

Asia Argento: Ich glaube, das ist nicht wirklich relevant. Fellini hat gesagt: „Kunst ist autobiografisch!“ Die Perle ist die Autobiografie der Muschel. Wir müssen nicht in meiner Vergangenheit buddeln und herausfinden, was meine Mama und mein Papa damals genau gemacht haben oder meine Lehrer. Wenn mich das interessieren würde, hätte ich einen Dokumentarfilm wie CAPTURING THE FRIEDMANS gemacht. Ich wollte Kino machen. Ich halte die Geschichte für universell, denn wir alle haben uns in unserer Kindheit ungerecht behandelt gefühlt. Wir alle spüren einen Schmerz. Wenn mir jemand sagt, er hatte eine perfekte Kindheit, werde ich misstrauisch, denn das heißt meistens nur, dass sie die Vergangenheit romantisieren, um die Gegenwart erträglicher zu machen. Und so zu tun, als sei ihnen nichts passiert, führt oft dazu, ebendiese Ungerechtigkeiten an die eigenen Kinder weiterzugeben. Ich wollte in meinem Film diese Erinnerungen auf die Spitze treiben, um ein bisschen aufzurütteln und zu zeigen, dass Eltern oft auch das Kind in sich erhalten haben und sich bisweilen entsprechend unreif benehmen. Aber die Unschuld der Kinder muss um jeden Preis geschützt werden. Das sind oft scheinbar Kleinigkeiten wie das Armband, dass Aria bastelt und ihre Mutter vergisst es dann einfach. Das kann für Wunden sorgen, die man ein ganzes Leben mit sich herumschleppt. Eltern müssen immer wieder daran erinnert werden, sich ganz bewusst mit ihren Kindern auseinanderzusetzen und gut zu ihnen zu sein, damit sie sich zu eigenständigen Individuen entwickeln können. Das Zuhause und die Familie sind keine Demokratie. Es ist ein totalitäres Regime. Und Kinder sind den Egos ihrer Eltern hilflos ausgesetzt.

Warum erzählen Sie die Schrecken dieser Kindheit als Komödie?

Ich habe das Drehbuch zusammen mit Barbara Alberti geschrieben, eine gute Freundin und unglaublich begabte Autorin, die schon Filme wie DER NACHTPORTIER und ICH BIN DIE LIEBE verfasst hat. Und die Arbeit mit ihr war so lustig, wir haben uns beim Ausdenken der Charaktere oft kaum eingekriegt vor Lachen. Wir haben beide ganz offensichtlich einen sehr merkwürdigen Sinn für Humor, sehr schwarz, aber das hat auch etwas Befreiendes. Die Eltern sind wahnsinnig selbstbezogen, aber sie sind nicht böse. Sind einfach nur selbstsüchtige, egoistische Egomanen. Und sie kommen mit Aria nicht klar, weil sie ein kleiner Treibauf ist und Aufmerksamkeit fordert, die sie aber auf ihre eigene Arbeit und sich selbst richten. Und das zu beobachten, fand ich ziemlich komisch. Ich wollte von diesen Dingen erzählen, ohne gleich das Messer in die Wunde zu stoßen und genüsslich herumzudrehen.

Eine schlimme Kindheit kann einen umbringen oder zum Künstler werden lassen? Was hat Sie gerettet?

Im Film habe ich das Ende bewusst offen gehalten. Aber es stimmt schon: Es ist ein Wunder, eine solch extreme Kindheit zu überleben, ohne drogenabhängig zu werden oder ein abgefuckter Künstler. Ich kenne so viele von denen und wahrscheinlich war ich selbst auch eine abgefuckte Künstlerin. Aber dieses Talent bekommt man geschenkt, man hat eine Gabe wie das Schreiben oder Malen so wie man blaue Augen hat, es ist nichts, was man sich verdient, sondern was einem gegeben wurde, ob nun von Gott oder durch die DNA. Und man muss sich um dieses Talent kümmern, es nutzen. Man ist nur ein Medium, da bin ich mir ganz sicher, etwas kommt durch einen in die Welt. Und das kommt nicht, weil man eine abgefuckte Kindheit hatte, man wurde damit geboren. Und man muss diese Gabe hegen und pflegen, wie ein Kind.

Was hat Sie an den 1980er Jahren interessiert, abgesehen davon, dass Sie in diesem Jahrzehnt aufgewachsen sind?

Kinder und Jugendliche waren damals noch nicht so abgelenkt von Facebook, Twitter oder Sozialen Medien, bei denen man eine andere Identität annehmen kann. Die Beziehungen waren unmittelbarer. Verstehen Sie das bitte nicht als Kritik oder „Früher war alles besser“, ganz im Gegenteil. Ich nutze diese Dinge extensiv und gerne, denn durch diese Art der Kommunikation habe ich das Gefühl, sagen zu können, was ich will und mich damit viel besser präsentieren kann. Soziale Medien sind sehr nützliche und effektive Werkzeuge, aber für ein Kind können sie gefährlich sein, weil sie dessen Drang verstärken, von anderen gemocht und akzeptiert zu werden. Im Film wollte ich keine Smartphones oder dergleichen, es hätte die Geschichte behindert.

Gibt es auch gute Erinnerungen an Ihre Kindheit?

Ich bin in einem Viertel in Rom aufgewachsen, in dem wir uns sehr frei bewegen konnten. Ich war oft mit meinen Freunden den ganzen Tag draußen auf der Straße, wie eine streunende Katze und wir haben auch viel Unfug gemacht. Die Szene im Film mit den Briefkästen, aus denen wir die Briefe klauen, habe ich genau so selbst erlebt. Und ohne jetzt zu autobiografisch zu werden: wir haben sie genau dort gedreht, wo wir damals erwischt wurden und genau derselbe Typ von damals war noch immer da. Als wir dann vor seinen Augen drehten, war das schon fast absurdes Theater.

Ihre Filmkarriere haben Sie vor der Kamera begonnen, für Ihren Vater Dario Argento, aber auch für andere. Zuletzt scheinen Sie aber ein wenig das Interesse am Schauspielen verloren zu haben...

Der letzte Film, der mir Spaß gemacht hat, ist eine ganze Weile her. Ich bin sehr dankbar für die Erfahrungen, weil sie meine Filmschule als Regisseurin waren und ich viel von anderen gelernt habe. Ich war nie eine Darstellerin, die sich zwischen den Aufnahmen in den Wohnwagen zurückgezogen und in Klatschmagazinen geblättert hat. Ich war immer hinter der Kamera und habe genau beobachtet, wie die Crew arbeitet. Und mir wurde auch schnell klar, was für ein Ego man braucht, um diesen Job vor der Kamera gut zu machen. Vor allem als Frau wird man sehr auf Äußerliches reduziert und das hat mir nicht gut getan. Ich wollte nicht nur mehr, ich musste! Die Geschichten, die ich erzählen will, sind mir sehr wichtig. Durch sie blühe ich auf.

Was bringt Sie zum Lachen?

Oh, ich habe einen sehr verqueren Humor! Aber ich lache sehr viel! Und ich bin bekannt für meine dreckige Lache, tief aus dem Bauch raus. Ich lache über Beobachtungen, über Dinge, die schon immer da waren, die man so aber noch nicht erkannt hat.

Wie kamen Sie auf Charlotte Gainsbourg für die Rolle der Mutter?

Ganz simpel: Sie ist meine Lieblingsschauspielerin. Es war mein Traum, mal mit ihr zu arbeiten und ich habe die Rolle für sie geschrieben. Sie ist so viel mehr als eine Schauspielerin. Sie ist zuallererst eine Seele, eine sehr tiefe und alte. Vor der Kamera ist sie sehr großzügig und ohne Angst. Und ich wollte sie anders sehen als in ihren bisherigen Rollen, als diese böse, aber verführerische Frau, unkonventionell, laut, betrunken...

Sie ist wie Sie die Tochter eines Künstlerpaares. Spielte das auch eine Rolle?

Überhaupt nicht. Und ob sie es glauben oder nicht: wir haben kein einziges Mal über unsere Eltern geredet. Sie hat mich nie über meine gefragt und ich sie auch nicht. Wahrscheinlich weil uns ständig jeder danach fragt und wir es leid sind. Ich liebe die Musik ihres Vaters, aber ich würde sie nie fragen: „Wie ist es, die Tochter von Serge Gainsbourg zu sein?“ Was für eine beknackte Frage ist das denn bitte? Da gab es zwischen uns eine unausgesprochene Übereinkunft.

Wie schmerzhaft war es, sich den eigenen Erinnerungen zu stellen?

Noch mal: nicht alles ist autobiografisch, aber es gab schon Momente am Set, in denen mir Tränen in die Augen schossen. Zum Beispiel als Aria zum ersten Mal von zuhause rausgeflogen ist und allein mit Koffer und ihrer Katze dasteht. Oder als sie in der Schule vergeblich darauf wartet, dass ihre Eltern kommen. Aber das war nichts Selbstmitleidiges, sondern sehr befreiend.

Wenn Familie ein totalitäres System ist, welche Art von Diktator sind Sie selbst als Mutter?

Ich habe meine Lektion gelernt. Ich mache sicher Fehler, aber dann werde ich von meinen Kindern darauf hingewiesen. Wir haben ein sehr gleichberechtigtes Verhältnis. Meine Intention ist, sie anzuleiten, ihnen den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. Wir sind sehr ehrlich zueinander und sie wissen, sie können immer zu mir kommen. Bei uns gibt es immer einen echten Dialog, ich belehre sie nicht von oben herab. Ich beschütze sie, zugleich reden wir über alles. Das ist das Wichtigste.

Die Katze spielt eine so wichtige Rolle im Film. Ich nehme an, Sie hatten als Kind selbst auch eine?

Natürlich! Ich habe immer noch eine. Sie ist pechschwarz und heißt Rambo.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser