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Interview

„Es wurde mehr getrunken und gefeiert und gevögelt in den Siebzigern.“

Thomas Vinterberg über DIE KOMMUNE

INDIEKINO BERLIN: Sie sind selbst in einer Kommune aufgewachsen. Ist das ein Lebensmodell, das wiederkehren könnte?

Thomas Vinterberg: Das Kommunenleben ist heute viel rationaler. Ich würde es noch nicht einmal so nennen. Junge Leute mit wenig Geld ziehen in WGs zusammen, um Miete zu sparen. Aber jeder hat sein eigenes Fach im Kühlschrank. Es ist nicht mehr so verrückt und naiv und durchgeknallt und liebenswürdig, wie es damals in den Siebzigern war. Das hat sich überlebt. Ich habe 12 Jahre in einer Kommune gelebt, von sieben bis 19, aber jede Kommune war anders, so wie jede Familie anders ist. Es gab sehr wilde Kommunen mit freier Liebe und ja, auch Pädophilen, und es gab Kommunen wie unsere, die sehr bürgerlich war, sehr bodenständig und eher wie eine erweiterte Akademikerfamilie. Lehrer, Journalisten und Professoren, die sich ein Haus geteilt haben. Es gab einen radikalen Wandel zwischen 1975 und 85. Was sehr offen und großzügig begann, wurde schnell spießig und egoistisch. 1975 wurde die Miete nach dem Einkommen jedes einzelnen geteilt und der Vorschlag kam von dem, der am besten verdiente! Schnitt nach 1985: mein Vater geht mit genau diesen Leuten in eine Bar, ein paar haben aufgehört zu trinken und achten bei der Rechnung auf jede Krone, weil sie ja nur Mineralwasser getrunken haben. Traurig, oder?

Was ist von den Idealen übrig geblieben, sowohl für Sie als auch für die Gesellschaft als Ganzes?

Ich bin mir nicht sicher, was noch übrig ist. Ich weiß, womit es ersetzt wurde: mit Individualismus und dem Recht auf Privatsphäre. Auch das sind ja Werte. Ganz ehrlich sehe ich heute nicht viel Teilen, zumindest was Materielles angeht. Natürlich teilen die Leute viel auf Facebook. Ich fürchte, sie haben auch weniger Sex als früher. Es wurde mehr getrunken und gefeiert und gevögelt in den Siebzigern. Heute lebt jeder in seinem eigenen Apartment.

War die freie Liebe nicht schon immer eine Lüge?


Die Sexualmoral heute ist mindestens genauso verlogen. Untreue gilt als Verbrechen, aber fast jeder hat Affären. Heute wie damals ist das Problem, dass es eine öffentliche Agenda gibt, wie man sein Leben zu führen hat. Und die Agenda heute heißt Monogamie zwischen zwei Menschen. Und unter dieser Moral leiden sehr viele.

War die Zeit um Ihren Film „Das Fest“ und Dogma 95 im Rückblick auch naiv?

Ja und nein. Wir waren jung und rebellisch und eitel und ja, auch naiv. Aber man darf nicht vergessen, dass es anfangs riskant war, gegen das herrschende Kino anzukämpfen, dass wir für medioker hielten. Dieses Risiko verflog, als Dogma erfolgreich wurde, ein Rezept, eine Mode. Plötzlich sprachen Leute vom „Dogma-Style“, was ziemlich ironisch ist, denn Stil wollten wir ja gerade nicht. Damit war es vorbei. All der Applaus in Cannes 1998 war der Anfang vom Ende. Es war die natürliche Entwicklung dieser Welle, sie brach. Wir mussten die zehn Gebote wegschmeißen, denn sie waren zum Festivalticket geworden. Was ich mir davon bis heute bewahrt habe, ist der Ehrgeiz, so wahrhaftig und konfrontativ wie möglich zu sein.

Kommunen waren auch immer hochpolitische Biotope. Wieso haben Sie sich auf das Private konzentriert?

Weil es zwei Seiten gibt: Wovon die Leute reden wollen und was sie lieber verschweigen. Und Tobias und mich hat eher das Zweite interessiert. Und wir haben einen Filter, der Klischees verhindern soll. Wir haben alles rausgenommen, was man in einem Film über eine Kommune erwartet. Keine Lagerfeuer, kein Hasch, keine politischen Diskussionen, keine Menstruationsgespräche. Alles raus.

Wie würden Sie die Kollaboration mit Tobias Lindholm beschreiben, dem Ko-Autor ihrer Drehbücher?

Es ist sehr ungemütlich, dass er selbst als Regisseur so erfolgreich geworden ist! Nein, ich arbeite wahnsinnig gern mit ihm zusammen. Ich sehe ihn in erster Linie als Vorbild. Er ist sehr klug und ein echter Künstler. Und ein sehr enger Freund, den ich sehr respektiere. Und wir arbeiten gerade schon wieder zusammen, ein Drehbuch, das den Alkohol feiert. Viele große Taten der Geschichte sind ohne Alkohol nicht denkbar. Der Zweite Weltkrieg wurde von einem Trinker gewonnen, Sir Winston Churchill. Wichtige Werke der Weltliteratur sind unter Alkoholeinfluss entstanden. Mit dem richtigen Maß werden Gespräche oft sehr viel besser als nüchtern. Und gleichzeitig stirbt man daran. Und in Dänemark sterben wir früh, denn wir trinken sehr viel. Diese Dualität fasziniert uns. Wir trinken nicht mehr, aber wir versuchen dem öden, puritanischen Mittelmaß zu entgehen, indem wir wenigstens darüber schreiben.

Das dänische Kino ist seit Jahren extrem stark. Hat das strukturelle Gründe oder liegt es an Filmemachern wie Ihnen, Lindholm und von Trier?


Wir halten zusammen und helfen einander. Und wir fordern uns gegenseitig heraus, wir nehmen kein Blatt vor den Mund. Und wir haben uns in allen möglichen Situationen und Zuständen erlebt, Lars zum Beispiel, das schweißt zusammen. Wir sind eine Gruppe, eine Kommune. Und wir alle haben die Agenda, Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Das hält uns wach

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser