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Interview

Eisenstein wäre heute Post-Post-Post-Cameron

Peter Greenaway über EISENSTEIN IN GUANAJUATO

Seit über 50 Jahren dreht der 1942 geborene Waliser Peter Greenaway inzwischen Filme, die die Brücke zwischen bildender Kunst, Theater und Film schlagen. Nach einem Kunststudium begann er zunächst als Cutter im „Central Office of Information“, jener britischen Propagandainstitution, die in den 50er Jahre mit für den Erfolg des British Documentary Movement verantwortlich war, zu arbeiten. Ab inszenierte Greenaway dann eigene Filme. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehören die Filme, die in den 80er Jahren entstanden wie DER KONTRAKT DES ZEICHNERS (1982), DER BAUCH DES ARCHITEKTEN (1986), DER KOCH, DER DIEB, SEINE FRAU UND IHE LIEBHABER (1989). In jüngster Zeit war Greenaway mit seinen formverliebten, zahlenmystischen, exaltierten und von sehr unterhaltsam bis völlig obskur reichenden Filmen vor allem auf Festivals zu Gast, inszenierte Ausstellungen und das gigantische Crossover-Film-Kunst-Projekt THE TULSE LUPER SUITCASES (2003/2004), das aus drei Spielfilmen, einer Fernsehserie, 92 DVDs, CD-ROMs, Büchern über das Leben von Tulse Luper und einer Ausstellung seiner 92 Koffer besteht. Mit EISENSTEIN IN GUANAJUATO hat Peter Greenaway nun einen seiner zugänglichsten Filme seit langem produziert. Thomas Abeltshauser hat sich für INDIEKINO BERLIN mit dem Regisseur über Kunst, Kino und natürlich Sergej Eisenstein unterhalten

Die von Eisenstein entwickelte Montage ist wahrscheinlich das einzig Originäre, was das Kino hervorgebracht hat.

INDIEKINO BERLIN: Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film über den russischen Stummfilmregisseur Sergej Eisenstein zu drehen?

Peter Greenaway: Meiner Meinung nach gibt es in der Filmgeschichte nur sehr wenige Visionäre, man kann sie an einer Hand abzählen. Und Eisenstein steht auf dieser Liste für mich ganz oben. Das hat mehrere Gründe: er hat seine Hochphase Mitte der 1920er Jahre als das Kino gerade anfängt als Kunstform in Erscheinung zu treten. 1895 ist das Geburtsjahr des Films, es vergeht also gerade mal eine Generation, bevor Eisenstein aus dem Theater kommend ein Vokabular der Filmsprache entwickelt. Und dieses Vokabular gilt für das Kino als Industrie ebenso wie als Unterhaltungsmedium und als Propaganda. Schon Marx und Engels dachten, dass Film das ideale Medium ist, um das Proletariat zu erziehen. Und auch angesichts der Tatsache, wer Eisenstein war, ein polyglotter Mann mit unermesslichem Wissen, war er in der idealen Position, um Kino als Kunstform zu erfassen und ernst zu nehmen.

Können Sie sich daran erinnern, als Sie selbst seine Filme zum ersten Mal sahen?

Anfang der 1960er Jahre studierte ich Malerei an der Kunsthochschule in London. Damals explodierte dort der Kunstbegriff geradezu, wir wandten uns allen möglichen Ausdrucksformen zu: Film, Performance, alles war interessant. Ich entdeckte Eisenstein damals eher durch Zufall. Ich sah seinen Film STREIK von 1925, das erste Meisterwerk der Filmgeschichte. Das war natürlich sozialistische Propaganda, aber meine damalige Freundin war Kommunistin und ich fand das überaus spannend. Eisensteins Filme waren viel lebendiger, es gab weit mehr Schnitte als in den amerikanischen Filmen etwa von Griffith. Und Eisensteins Filme waren erstaunlich brutal. Das verstörte viele, vor allem in Amerika.

Sein zweiter Film PANZERKREUZER POTEMKIN dagegen wurde dann ein weltweiter Erfolg.


Er hatte selbst auf so banale Leute wie Douglas Fairbanks und Mary Pickford unglaublichen Einfluss, die sofort erkannten, dass man diesen Mann nach Hollywood holen muss. Bei Paramount setzte man alles daran, dass er kommt, aber das erwies sich als totale Niederlage. Sie waren viel zu antiintellektuell, um jemandem wie Eisenstein auf Augenhöhe zu begegnen. Aber er begegnete dort Sozialisten wie Charlie Chaplin, der ihm schließlich ermöglichte, in Mexiko zu drehen. Das sollte QUE VIVA MÉXICO! werden, für den er in kürzester Zeit unglaublich viel Material aufgenommen hat, das er aber nie schneiden durfte.

Dabei gilt er als Erfinder der Montage, des Filmschnitts.


Das ist ja das Tragische! Im Laufe meiner eigenen Laufbahn als Regisseur kam ich immer wieder auf seine Filme zurück, um zu sehen, wie er es gemacht hat. Ich habe nicht nur seine sechs vollendeten Langfilme gesehen, sondern auch so ziemlich jedes andere verfügbare Material und auch seine theoretischen Schriften gelesen und seine Opern- und Tanzinszenierungen studiert. Ich bin mehrfach nach Moskau gereist, habe viele Stunden in seiner Bibliothek gesessen und habe viele Drehorte besucht. Ich war schon immer fasziniert von ihm und habe ihn immer wieder als Bezugspunkt verstanden, zu dem ich zurückkomme. Da ich aus der Malerei kam, hat mich weniger das Narrative interessiert als die Art der Inszenierung, die Perspektive, das Visuelle. Das konventionelle Erzählkino beruht auf Geschichten, die schon in der Literatur bestehen, es ist bloß illustrierter Text. Und wenn es schon eine Vorlage gibt, die sich im Markt bewährt hat, umso besser für die Filmförderung. All das interessiert mich nicht. Es ist eine unglaublich faule Herangehensweise. Ich finde das Bildliche viel spannender. Und für mich begann das Kino nicht mit Lumière und Méliès, es wurde von den vier großen Meistern erfunden: Caravaggio, Velasquez, Rubens und Rembrandt. Um es kurz zu fassen: die von Eisenstein entwickelte Montage ist wahrscheinlich das einzig Originäre, was das Kino hervorgebracht hat.

Die meiste Kunst handelt von Kunst, nicht vom Leben.

Sie haben sich in Ihren Filmen immer wieder mit Künstlern auseinandergesetzt, vor allem mit Malern. Eisenstein ist ein Bildermacher mit anderen Mitteln. Sehen Sie trotzdem Parallelen?

Schon Rembrandt hat vor vier Jahrhunderten gesagt, nur weil man Augen hat, heißt das noch nicht, dass man sehen kann. Man muss den Blick lernen. Eisenstein arbeitete sehr stark mit Licht und inszenierte seine Protagonisten oft wie Statuen mit starken Profilen. Das reflektiert auch mein Film, aber natürlich sind wir im Jahr 2015 und nicht 1925. Eisenstein wäre heute Post-Post-Post-James Cameron und das mit links. Er würde dreidimensionale Hologramme inszenieren, cutting edge! Er war ein unermüdlicher Erfinder. Und er war ein Polyglott, er hat die ganze Welt auf die Leinwand gebracht. Heute ist das Kino so ein winziger Teil unserer Gesellschaft, fast schon inzestuös. Der Horizont seiner Vision ist aus dem heutigen Kino verschwunden. Und das wollte ich in meinem Film widerspiegeln. Er handelt genauso von Farbtheorie, von Literatur und Schrift. Eisensteins Spiel mit Text und Worten ist hochartikuliert. Und es geht um Architektur und Filmräume. Ich habe große Freude an diesen architektonischen Spielereien. Meine Position ist da sehr missionarisch. Ich komme aus einem Land, das im Kino den Realismus feiert. Dabei kann man keinen Realismus herstellen, das ist absolut lächerlich und eine Sackgasse. Warum sollte man das überhaupt versuchen? Gott hat es schon getan. Die meiste Kunst handelt von Kunst, nicht vom Leben.

Trotzdem ist der Film eher ein Porträt über den Menschen als das Werk. Warum haben Sie sich auf Eisenstein als Person konzentriert?

Ich folge da der Theorie, dass es viel interessanter ist, warum Van Gogh sich das Ohr abgeschnitten hat als seine Sonnenblumen. Wir sind fasziniert von der menschlichen Natur, der Person hinter den Kunstwerken und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Eisenstein verbringt zehn Tage in Mexiko, abseits von dialektischem Materialismus und stalinistischer Paranoia, er spürt dort eine Freiheit wie nie zuvor. Ich hatte immer den Eindruck, dass Eisensteins erste drei Filme ganz anders sind als seine letzten drei. Warum? Nun, ich denke, weil ihn die Erfahrung in Mexiko verändert hat. Statt den Massen in PANZERKREUZER POTEMKIN, OKTOBER und STREIK interessierte er sich in ALEXANDER NEVSKY und den beiden Teilen von IVAN DER SCHRECKLICHE mehr für das Individuum.

In fünf Jahren werden die einzigen Orte, an denen Filme auf einer Leinwand gesehen zu können, Filmfestivals sein

Wie sehen Sie das heutige Kino?

Das Kino ist tot. Oder es liegt zumindest schon eine ganze Weile im Sterben. Es dominiert die Hollywoodvorstellung vom Kino als Geldmaschine, das europäische Kunstkino ist verschwunden. Die Welt braucht es nicht mehr, will es nicht mehr. Schon heute werden laut einer Studie nur noch 5 Prozent aller Filme im Kino gesehen. Ich prophezeie, in fünf Jahren werden die einzigen Orte, an denen Filme auf einer Leinwand gesehen zu können, Filmfestivals sein. Alle anderen schauen Filme allein auf einem kleinen Display irgendwo. Kino als Gemeinschaftserlebnis ist bald ganz ausgestorben, abgehen von Festivals, Museen, Kinematheken und Vorführungen mit Eventcharakter. Oder es wird gleich zu einem sozialen Medium auf Youtube. Man kann die Geschichte des Weltkinos auf einem kleinen Gadget in der Hosentasche mit sich herumtragen. Deswegen ist es genau der richtige Zeitpunkt, einen der größten Praktiker und Theoretiker der Filmgeschichte zu feiern.

Im Gegensatz zu prüden Pseudosexfilmchen wie FIFTY SHADES OF GREY haben Sie nicht das geringste Problem, die schwulen Ausschweifungen Eisensteins bis ins Detail zu zeigen.

Warum auch nicht? Wir alle haben Körper und Genitalien! Dieses verklemmte Spiel in Hollywoodfilmen, in denen immer getan wird als seien wir geschlechtslos. Das ist doch lächerlich! Dort gibt es keinen Geruch, keine Körperflüssigkeiten, kein Schmutz. Lasst uns über Sex reden, und zwar so offen wie möglich. Eisenstein hatte sehr wenig Selbstbewusstsein, was seinen Körper anging. Er dachte nicht, dass ihn jemand attraktiv finden könnte. Er hielt sich für einen Clown. Aber er hatte ein Verlangen, das sich in seinen Filmen ausdrückte. Schauen Sie sich POTEMKIN an: Voller Penisse, Ejakulation und Matrosen. Aus queer-theoretischer Sicht ein großer Spaß!

In Russland dürfte das kaum jemandem gefallen.


Und ich feiere einen ihrer Nationalhelden. Sie wissen seit Jahrzehnten, dass Tschaikowski, einer der größten Künstler Russlands, schwul war. Nun werden sie sich auch mit Eisensteins Homosexualität auseinandersetzen müssen. Noch wurde mir kein Hundekot per Post geschickt wie bei früheren Werken von mir, aber EISENSTEIN wird sicher nicht auf dem Moskauer Filmfest laufen. Der Film hat zwar mittlerweile einen kleinen russischen Verleih, aber er muss noch durch die Zensur. Diese ganze Homophobie dort halte ich für einen künstlich erzeugten Putinismus, pure Staatspropaganda. Ich habe viele Freunde in Sankt Petersburg und Moskau, die überhaupt nicht seiner Meinung sind. Das ist ein soziales und politisches Phänomen, erfunden von einem Mann, der die Hosen voll und Angst hat, die Kontrolle zu verlieren.

Worin sehen Sie in diesem Zusammenhang Ihre Aufgabe als Künstlers?

Im besten Fall betreten wir Wege in Gegenden, in die sich der Rest der Gesellschaft nicht traut, aus welchen Gründen auch immer. Das kann Sexualität oder Tod oder was auch immer sein. Künstler sind Botschafter, Vorkoster, Entdeckungsreisende. Und deshalb müssen wir provokativ sein, gefährlich, wagemutig. Künstler sind notwendig, um denen, die ihre Komfortzone nicht verlassen wollen, eine Alternative aufzuzeigen: Schaut her und erweitert Euren Horizont, ein anderes Leben ist möglich! Auch wenn es den Herrschenden nicht passt.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser

Thomas Abeltshauser