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Interview

"Die Erzählform war für mich genauso ein Motor, diesen Film zu machen, wie der Inhalt selbst"

Maria Schrader über VOR DER MORGENRÖTE

INDIEKINO BERLIN: Was hat sie bewogen, einen Film über die Exilerfahrung von Stefan Zweig zu machen? Geht es ihnen um die Einsamkeit und das Getriebensein von Stefan Zweig, der in der Emigration nicht glücklich werden konnte, obwohl er sicher war?

Maria Schrader: Ich glaube, das private Glück und die private Zufriedenheit waren keine Kategorie für Stefan Zweig. Zweig war jemand, der seine Arbeit über alles stellte. Er war nicht so bedroht wie andere, er hatte ein gutes Auskommen, er hatte ein Aufenthaltsvisum. Aber das, was von uns mehr und mehr gefordert ist, nämlich den Fernseher wieder auszuschalten, die immer umfangreichere Bild- und Informationsflut über Krieg, Verwüstung, Elend in anderen Orten der Welt wieder zu vergessen, irgendwo wegzuschließen, um überhaupt weiterzumachen und zu funktionieren in unseren Leben, unseren Berufen - das ist ihm nicht gelungen. Er war zwar in Sicherheit, er war sogar in einem Paradies gelandet, im tropischen Regenwald Brasiliens umgeben von saftigster Natur und Papageien, aber im Geist war er immer woanders, konnte den Gedanken daran nicht abstellen, was zeitgleich anderen Menschen zustieß, dass Europa sich selbst vernichtete. Die besondere Schönheit um ihn herum kam mir während der Recherche immer mehr wie eine besondere Grausamkeit vor. Der Gegensatz dieser zwei Welten, der äußeren und der inneren, der biblischen, wuchernden und einsamen Natur und der hochentwickelten Zivilisation, die sich mit ihren technischen Errungenschaften selbst zerstörte, ist so interessant, finde ich, fast allegorisch. Und natürlich sehr filmisch. Beim letztjährige Cannes-Gewinner DÄMONEN UND WUNDER zum Beispiel, auch ein Film über Flucht und Exil, geht es die ganze Zeit ums Überleben. Das ist direkt und physisch. Zweig hingegen wird im Kopf heimgesucht. Nachdem er sich sein Leben lang in den kulturellen Epizentren und Metropolen aufhielt, wie noch zu Beginn des Films in Buenos Aires auf dem PEN Kongress, so gerät er durch die Zentrifugalkraft seines Exils an den Rand der Welt und kann nur noch von Ferne dabei zusehen, wie die Idee, für die er ein Leben lang arbeitete, untergeht: die Idee eines geeinten und freien Europa.

Ihr Film wirkt geradezu unheimlich aktuell. Wenn Zweig über Europa sagt: „Eines Tages wird es keine Pässe und keine Grenzen mehr geben.“, dann schmerzt das richtiggehend. Wann haben Sie angefangen, sich mit der Geschichte zu beschäftigen? War die Krise Europas schon am Horizont?

Tatsächlich sind diese Sätze, die Zweig da sagt, seine historischen Worte. Wir haben 2011 mit dem Projekt angefangen, und dass das Thema so unmittelbar nach Beendigung der Dreharbeiten eine derartige Aktualität bekommt, konnten wir nicht voraussehen. Aber, dass wir zum Beispiel eine Szene entworfen haben, in der Lotte Zweig einem schwarzen Vorarbeiter im Norden Brasiliens erklären muss, dass und wo Krieg herrscht, und er überhaupt nicht versteht, warum man als deutscher Jude nicht in Deutschland bleiben kann, was überhaupt ein Jude ist, was es mit diesem Krieg auf sich hat – das war schon beabsichtigt. So ist es doch heute auch, nur spiegelverkehrt. Ich kenne die Hintergründe jeden Bürgerkriegs auch nicht, obwohl ich tausendmal mehr Möglichkeiten habe, mich zu informieren. Wir stellen den Flüchtlingen heute genau dieselben Fragen, und es ist erst 70 Jahre her, dass es umgekehrt war, dass sich die Leute zu Tausenden im Hafen von Marseille gedrängt haben, um auf ein Schiff zu kommen, dass die Bahnhöfe nach Lissabon und an die Küste so voll waren wie letzten Herbst die Wandelhalle hier in Hamburg.
In einer anderen Szene sagt Zweig über Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“: „ Unsere politische Gegenwart gibt dem Buch eine plötzliche Brisanz, die man wohl ein Glück für Werfels Verleger nennen kann.“ An diesen Satz musste ich auch denken, ohne zu wissen, ob man da von Glück sprechen kann. Ja, der Film bekommt eine plötzliche und ungeahnte Brisanz, das ist wahr...

. Wir wollten sehr wenige Momente sehr detailreich erzählen und sehr viele Fragen unbeantwortet lassen

Was mich bei den Miniaturen beeindruckt hat, ist die gesprochene Sprache. Es geht mir selten so, dass ich in historischen Filmen das Gefühl habe, so könnten die Leute wirklich geredet haben. Wie haben Sie sich dem angenähert?

Wir haben wahnsinnig viel gelesen. Zweig hat unfassbar viele Briefe geschrieben, und die hat er zum Teil auch so schnell geschrieben, dass man ein Gefühl dafür bekommt, wie er formuliert hat. Und dann beschäftigt man sich ja auch ein bisschen sternförmig mit dieser Zeit. All das, was auf dem PEN Kongress gesagt wird, ist originaler Wortlaut. Wir haben sehr lange gesucht, um die Protokolle der Sitzungen zu finden. Die Interviews, die Zweig gibt, sind kombinierte historische Zitate. Dann gibt es ein sehr aufschlussreiches Buch, das Friderike Zweig geschrieben hat und in dem sie auch über ihre Flucht aus Europa berichtet, darüber, wie ihre Töchter geheiratet haben, wie sie sie verloren und wiedergefunden hat. Aber natürlich haben wir die meisten Dialoge selbst geschrieben, man hört und schreibt sich eben hinein in diese Zeit.

Vieles in VOR DER MORGENRÖTE bleibt unerklärt. Sie verzichten zum Beispiel darauf die vielen Figuren genauer einzuführen. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja. Wir wollten sehr wenige Momente sehr detailreich erzählen und sehr viele Fragen unbeantwortet lassen. Ich habe oft den Eindruck, dass mir gerade in biografischen Filmen Dinge so kleinportioniert verabreicht werden, dass ich mich betrogen fühle, weil ich denke „So einfach ist das Leben nicht“. Wenn ich meinen Eltern früher zugehört habe, oder wenn ich jetzt Menschen auf irgendwelchen Veranstaltungen treffe, dann es gibt es immer riesige Portionen von Leben und eine Menge von Namen, die mir um die Ohren fliegen, zu denen ich keinen Bezug habe, die mir aber auch nicht erklärt werden müssen, um ein Gefühl für etwas Essentielles zu bekommen.
Die Erzählform war für mich fast genauso ein Motor, diesen Film zu machen, wie der Inhalt selbst. Ich wollte keine Dramaturgie, in der B passiert, weil A passiert ist, weil ich das Gefühl habe, das das Leben, besonders das Leben im Exil, so sehr von Zufall und Willkür bestimmt wird, so wenig in kausalen Zusammenhängen verläuft, dass wir eine Form brauchten, die genau das ins Zentrum ihrer Aussage stellt. Wir können nicht über das Leben von Stefan Zweig berichten. Wir können uns Situationen annähern, von denen er ein Teil war. Es ging nicht um ein Biopic über Stefan Zweig. Wir haben uns von ihm selbst inspirieren lassen, der sich im Vorwort seiner Autobiografie von „Die Welt von Gestern“ als Stellvertreter einer Generation bezeichnet. Für uns ist er der Stellvertreter eines Exilanten, eines Künstlers in der Öffentlichkeit, eines europäischen Intellektuellen.

Welches Thema war bei der Auswahl der Szenen für Sie zentral?

Alle diese Momentaufnahmen drehen sich um das Thema Exil, in seinen unterschiedlichsten Formen. Der Prolog ist natürlich der Beginn von Zweigs Liebesgeschichte zu Brasilien. Hier glaubt er, eine neue Heimat finden zu können nachdem ihn seine erste Geliebte, Europa, verstoßen hat. Aber die erste Szene auf dem PEN Kongress erzählt bereits seine beginnende Vereinsamung, die Sprachlosigkeit angesichts einer immer radikaleren Umgebung. Die zweite Szene im Zuckerohr ist das tatsächliche Ankommen in den Niederungen des Exil, diese Aufspaltung in ein anwesendes und ein abwesendes Selbst. New York ist das private Exil, die Begegnung mit der Exfrau, die ihm 20 Jahre lang Heimat war, die jetzt nach New York geflohen ist und mit ihren Töchtern sofort ein neues Zuhause installiert - - eine Familie zu der er jetzt nicht mehr gehört - und die neue jüngere Frau an seiner Seite, die lange nicht eine solche Verbindung mit ihm aufbauen kann wie ihre Vorgängerin. Dann folgt die Entscheidung, sich in Brasilien nieder zu lassen, die Enttäuschung und Ernüchterung über dieses Land und schließlich seine Vereinsamung.
Das waren unsere Themen und so kam es zu dieser Zusammenstellung. Es ist ein Mosaik, das vielleicht die Phantasie anregt, wie viel mehr und wie viele andere Situationen von ähnlicher Komplexität es in Zweigs Leben gegeben haben muss, das Mosaik könne aus anderen Steinen in anderen Formen mehrfach zusammengestellt werden. Wie gesagt, es sind Miniaturen, und ich hätte eigentlich auch Lust, sie weiter zu führen. Auf jeden Fall hat mir diese Form der Erzählung große Freude bereitet.

Das Gespräch führte Hendrike Bake