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Feature, Personen

Cinema of Obsession: Die Filme von Peter Strickland

Am 3.12. startet Peter Stricklands neuer Film THE DUKE OF BURGUNDY. Wir stellen den in Deutschland noch viel zu wenig bekannten Filmemacher und seine Film vor.

In einem Text zu Peter Stricklands zweitem Film BERBERIAN SOUND STUDIO bezeichnete Peter Bradshaw, der Chef-Filmkritiker des „Guardian“, Strickland als „den wichtigsten britischen Filmemacher seiner Generation“. Das wirkte damals plausibel, aber nach Stricklands drittem Film erscheint es wie britisches Understatement. Strickland ist einer der aufregendsten aktuell produzierende Filmemacher weltweit. Wie kann es sein, dass jemand, der völlig eigene filmische Welten erschafft, der sein Material auf eine Weise beherrscht, wie zuvor bestenfalls Stanley Kubrick, in Deutschland nahezu unbekannt ist? Es gibt keine deutsche Wikipedia-Seite über Strickland, zur Berliner Pressevorführung seines neuen Films THE DUKE OF BURGUNDY erschienen kaum mehr als zehn Filmjournalisten.

Strickland begann als ein Außenseiter im Filmgeschäft. Er wuchs in Reading auf, einem Kaff nördlich von London, von dem er sagt: „Oscar Wilde wurde dort ins Gefängnis gesperrt. Mehr muss man über Reading nicht wissen.“ Strickland wollte schon als Teenager Filme drehen, schaffte es aber nicht auf die Filmschule – die „Akademie“ in BERBERIAN SOUND STUDIO in deren Keller Hexen verbrannt werden, könnte eine Anspielung darauf sein. 1995 gelang es ihm mit dem Kurzfilm BUBBLEGUM - für den er nach New York gereist war, um Nick Zedd, Undergroundfilmemacher und Autor des „Cinema of Transgression“-Manifests und Holly Woodlawn, eine der Drag Queens in Andy Warhols Filmen, als Darsteller zu gewinnen - in den Wettbewerb der Berlinale zu kommen. Eine Erbschaft ermöglichte es ihm, seinen ersten abendfüllenden Spielfilm zu drehen. Die Filmaufnahmen zu KATALIN VARGA entstanden für 25.000 Pfund im Ungarischsprachigen Teil Rumäniens, danach musste Strickland fünf Jahre lang wieder Brotjobs übernehmen und darauf warten, den Schnitt finanzieren zu können.

Strickland sagt, in Reading habe es kein Programmkino gegeben, also habe er viele Dinge, über die er gelesen hatte, etwa die Experimentalfilme von Stan Brakhage, nicht sehen können. Aber er hätte sie sich vorstellen können. In seinen Filmen geht es immer wieder um dieses Moment der Vergegenwärtigung einer Vorstellung: in KATALIN VARGA geht es sowohl um Katalins Erinnerungen an einen vergangenen Schrecken, wie um das Scheitern der Vergegenwärtigung ihrer Phantasie, die auch eine Kino- und im speziellen eine Genre-Phantasie ist. In BERBERIAN SOUND STUDIO bedrängt die sinnliche Qualität der Geräusche, die ein Toningenieur für Grausamkeiten in einem italienischen Horrorfilm produziert, seine Seele. Die Vorstellung dessen, was das Geräusch von ein paar Tropfen Wasser in einer heißen Pfanne illustrieren können, überwältigt ihn. In THE DUKE OF BURGUNDY stellen Evelyns sexuelle Vorstellungen ihre Liebesbeziehung zu Cynthia in Frage. Ist sie nur eine Funktion in Evelyns masochistischen Inszenierungen? Liebt Evelyn ihr Phantasma mehr als die wirkliche Person, die für sie eine Rolle spielt?

Typisch für Stricklands Filme sind aber auch die elaborierten Tonmischungen, die wohl einer der Gründe waren, warum die isländische Sängerin Björk ihn bat, eine Filmversion ihrer „Biophilia“-Konzerte zu filmen: Aus der Zusammenarbeit entstand Stricklands psychedelischer Konzertfilm BIOPHILIA LIVE, zeitgleich mit THE DUKE OF BURGUNDY. In allen Spielfilmen Stricklands spielt die Musik eine große Rolle: In BERBERIAN SOUND STUDIO schafft die Band Broadcast eine Stimmung, die an den Prog-Rock-Soundtrack in Dario Argentos SUSPIRIA erinnert, während eine Szene mit einem sexuell erregten Troll die Sprachmusik der Avantgarde-Sängerin Kathy Berberian und ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten Bruno Maderna zitiert. Deren Stück „Visage“ begleitet in Henri-Georges Clouzots Film LA PRISONNIÈRE eine wilden Montage-Sequenz, die Strickland wiederum am Ende von BERBERIAN SOUND STUDIO zitiert. In THE DUKE OF BURGUNDY spielt der Soundtrack von Cat‘s Eyes mit Stilmitteln des französischen Pop, wie er in Bruno Nicolais‘ Soundtracks von Jess Francos Sexploitation-Filmen oder in Francis Lais Chansons aus Claude Lelouchs romantischem Klassiker UNE HOMME ET UNE FEMME erscheint…

Stricklands Filme enstehen aus einer tiefen Liebe zu den Untiefen zwischen Avantgarde und „niederer“ Kultur, zwischen Experimental- und Exploitationfilm, Kunst und Pop. Dabei funktionieren sie wie gute Popsingles, die man sofort noch einmal hören muss. Weil sie mitreißend sind, aber auch, weil man so etwas noch nie gesehen (und gehört) hat.

Das Debüt: Katalin Varga (2008)

Peter Stricklands in Transsylvanien auf Ungarisch gedrehter Debütfilm lief auf der Berlinale 2009 und rief extreme Reaktionen zwischen Begeisterung, Unverständnis und massiver Ablehnung hervor. Offenbar war auch die Jury, zu der neben Christoph Schlingensief und Tilda Swinton auch Henning Mankell und die Glamour-Köchin Alice Waters gehörten, gespalten und vergab einen Sonder-Bären für die herausragende künstlerische Leistung an die Sound-Ingenieure Gabor Erdély und Támas Székely. KATALIN VARGA schaffte es nicht in die deutschen Kinos, nicht einmal auf den deutschen DVD-Markt. Es gibt aber eine britische DVD von Artificial Eye, deren Import sich unbedingt lohnt.

KATALIN VARGA ist ein Rape/Revenge-Drama, das die Konventionen des viel gehassten und viel debattierten Genres unterläuft. Am Anfang klopft die Polizei an eine Tür und sucht nach Katalin, nach den Titeln aber läuft ein kleines Mädchen durch Wiesen, singt und pflückt Blumen, bevor sie erstarrt. Ein Junge, den wir später als Katalins Sohn Orban kennenlernen werden, lauert ihr im Gras auf. Gewalt ist hier nur ein Potential, das im Kopf des Mädchens stattfindet: sie läuft weg. Aber ihre Befürchtung, der Junge könnte ihr etwas antun, setzt die Stimmung für diesen Film, in dem Katalin von ihrem Mann verstoßen wird, als Gerüchte zu ihm durchdringen, dass Orban nicht sein Sohn sei. Katalin macht sich auf die Reise zu den Männern, die sie vor 10 Jahren vergewaltigt haben. Strickland inszeniert ihre Reise als eine Mischung aus Idyll und Horrorfilm, Chöre heulen im Hintergrund und wohl auch in Katalins Kopf. Einer der häufigsten Vorwürfe an den Rape/Revenge-Film sind exploitative Darstellungen der Vergewaltigung, in denen die Opfer noch einmal objektifiziert werden. Strickland entgeht dieser Falle, indem er die Vergewaltigung nicht zeigt, sondern sie nur in der Erinnerung an Orte und Gesichter spiegeln lässt. Katalin und ihr Sohn blicken auf eine entfernte Bergkette, die Kamera fährt näher an ihre Rücken heran. „Wir sind ganz nah“, flüstert Katalin Orban nachts ins Ohr. Ein gewaltiger Berg erhebt sich im Bild, dann eine Stelle in einem Wald, ein großer Baum in der Mitte, und man weiß: dies war der Ort, hier ist nichts zu sehen, aber zu fühlen. Die Erinnerung an den Schrecken verhandelt Strickland mit einer Diskretion, und Bildern, die an Claude Lanzmann erinnern. Als Katalin auf einer Bootstour mit ihrem Vergewaltiger Antal und dessen Frau, ihre furchtbare Geschichte erzählt, aber allmählich in märchenhafte Träumerei gleitet – die Tiere des Waldes hätten sie aufgehoben und gepflegt – ist der kalte Höhepunkt dieser düsteren Ballade erreicht. Stricklands erster Film ist auch sein dunkelster. Katalins Rache wird unvollendet bleiben und ein unerwartetes Opfer fordern.

Hommage an den Giallo: Berberian Sound Studio (2012)

Horrorfilm, Komödie, Liebeserklärung, Experimentalfilm. In BERBERIAN SOUND STUDIO schickt Peter Strickland seinen traurigen Helden tief in die Eingeweide des schmierigsten italienischen 70er-Jahre-Horrorfilms, in eine Zeit als diese Filme komplett nachvertont wurden. Toby Jones spielt Gilderoy, einen schüchternen englischen Tontechniker, der zuletzt an einer Naturdokumentation im Fernsehformat „Local Perspectives“ gearbeitet hat und am Feierabend Tonbänder hört, die mit „Kaminuhr“ oder „Mum’s Footsteps“ beschriftet sind. Aus undurchsichtigen Gründen hat ihn das italienische Tonstudio BERBERIAN SOUND STUDIO eingekauft, um den Horrorfilm THE EQUESTRIAN VORTEX zu vertonen. Mit Horror hatte Gilderoy nicht gerechnet: „ Santini sagte etwas mit Pferden“ „Oh ja, es geht um eine Reiterin. Nur das sie jetzt nicht mehr reitet“.

Den Film selbst bekommt der Zuschauer nie zu sehen, sein Inhalt erschließt sich allein über die Geräusche, das Tonskript, das die Kamera immer wieder liebevoll abgleitet und die Szenentitel, die vor jeder Aufnahme eingesprochen werden: Akt 1, Szene 13, Take 1: Teresa und Monika wagen sich in den Tunnel unterhalb der Akademie, wo der Hühnerkot entsorgt wird; die Hexenleichen bemerken sie nicht. Gilderoy macht sich an die Arbeit. Er mischt Schreie mit Musik, mit geflüsterten Flüchen und Gebeten, die sich in Endlosloops wiederholen. Er vertont Mord- und Folterszenen, indem er auf Kohl einsticht und Wasser in eine heiße Pfanne tropfen lässt. Umso tiefer Gilderoy sich in den EQUESTRIAN VORTEX begibt, umso verstörter wird er, umso mehr verschwimmen Alptraum und Realität. Wobei irgendwann die Frage auftaucht, ob es in diesem nur in tageslichtlosen Innenräumen spielenden Film überhaupt je so etwas wie Realität gab. BERBERIAN SOUND STUDIO erzählt von einem Mann, der die Kakophonie der Welt genau da antrifft, wo er sich vor ihr verbergen wollte, in Reglern, Mikrofonen und Tonbändern. Gleichzeitig ist der Film eine verführerische Liebeserklärung an das analoge Handwerk, an Loops, die um Teetassen durch das ganze Studio laufen, an Steckverbindungen und handgemalte Skripte, an Töne, die mit Obst und Gemüse erzeugt werden, an die Magie der Tonmischung, die aus dem idiotischsten Plot echten Horror herauskitzeln kann.

Engrenzt-flirrende Zustände: The Duke of Burgundy (2015)

Ein fast schon pastoraler Filmbeginn: Da sitzt eine junge Frau an einem idyllischen Gewässer im Wald, lauscht dem Plätschern und wartet. Dann besteigt sie ihr Fahrrad und radelt beschwingt, umschmeichelt vom entrückt-flirrenden Soundtrack von Cat’s Eyes, durch den herbstlichen Hain, durch ein altes Dörfchen. Das Bild friert ein, taucht in tiefes Rot: Der Filmtitel erscheint, in einer Serifen-Schrift wie aus einem softpornösen 70s-Drama. So geht das weiter: Stilisierte Schmetterlinge legen sich über den Vorspann, in einer Doppelbelichtung gerät das Close-Up-Profil einer weiteren Frau über die rot viragierte Totale, als seien beide Frauen miteinander verstrickt: Sonnenuntergangsglühen. Es sind melancholische, so sinnliche wie uneindeutige Stimmungs- und Rätselbilder, mit denen Peter Strickland einen behutsam an die Hand nimmt und in einen kristallin-fragilen, sonderbar außerhalb der Zeit liegenden Erzählkosmos führt. Und dabei zugleich eine wehmütige Nostalgie triggert: Dem ersten Eindruck nach weht THE DUKE OF BURGUNDY wie aus einer anderen Zeit heran.

Die Frau auf dem Fahrrad heißt Evelyn (Chiara D'Anna) und allem Anschein nach ist sie die Bedienstete von Cynthia (Sidse Babett Knudsen), deren prächtig ausstaffiertes Anwesen sie unter deren herrischem Diktat reinigt. Hier, in diesem im Wäldchen gelegenen Haus, entfaltet sich der Film so wie aus einer Raupe über die Puppe ein Schmetterling wird: Ein traumwandlerisch gleitender Metamorphosen-Film. Dass zwischen Evelyn und Cynthia kein vielleicht sogar missbräuchliches Angestelltenverhältnis herrscht, deutet sich zunächst in Kleinigkeiten an: Cynthia richtet sich für ihre Auftritte als Hausherrin sorgfältig her. Evelyn wirkt beim Stiefelputzen über Gebühr nachlässig und schielt immer wieder erwartungsvoll zur Tür. Eindeutig wird es spätestens, als Cynthia Evelyn als Strafe für ihre Saumseligkeit in den Abort zieht – wobei die „Strafe“ sich allein auf der Tonspur vermittelt. DUKE ist ein herausragend dezenter, ein zarter, geradezu zärtlich anschmiegsamer Film.

Eine vorab abgesprochene sadomasochistische Séance also. Die herrische Distanziertheit zwischen Cynthia und Evelyn ist gespielt: Beide sind ein Paar, zwei Schmetterlingsforscherinnen in einer kaum greifbaren Zeit, kaum greifbaren Welt: Die Ausstattung verweist lose auf das späte 19., frühe 20. Jahrhundert (nur der Plastik-Plattenspieler stört den Eindruck), Männer gibt es in dieser anscheinend aus nichts als Wald und weiteren Schmetterlingsforscherinnen bestehenden Welt keine. Dafür aber einen enormen materiellen Überschuss im Dekor, den die sanft gleitende Kamera (Nicholas D. Knowland) beinahe schon taktil erfahrbar werden lässt: Eine durchfetischisierte Welt voller Oberflächen, die sich danach sehnen, ertastet zu werden. In gewisser Hinsicht stemmt sich THE DUKE OF BURGUNDY auch gegen den oft prognostizierten Verlust der Dingwelt im Zuge der Virtualisierung der Welterfahrung.

Auch Cynthia, die barsche Domina, ist zum beträchtlichen Teil ein Fetisch, ein um ein Begehren herum geschmiedetes, aufgeladenes Objekt. Auch hier entpuppt sich der Film: Nicht etwa sie, als Top, hält die Zügel in der Hand, sondern gerade umgekehrt ist es Evelyn, deren Fantasien und Wünsche die Beziehung definieren und strukturieren: In kleinen Notizen mit “Regieanweisungen” für den Tag etwa, oder mit post-orgasmischen Hinweisen, beim nächsten Mal doch bitte energischer im Auftritt zu sein. Cynthia gibt sich Mühe und ist doch zunehmend überfordert. Die Dominanz ist ein Akt der Liebe, den sie sich abringt. THE DUKE OF BURGUNDY ist eine minutiöse, wunderbar sanfte, unendlich traurige Erkundung einer emotional missbräuchlichen Beziehung zu erkennen, in der ein Ungleichgewicht der befriedigten Bedürfnisse herrscht.

Das ist nicht nur von ungeheurer Feinfühligkeit, was die Komplexitäten sadomasochistischer Beziehungen betrifft, wie sie seit Leopold von Sacher-Masochs Roman “Venus im Pelz” von Ästhetik und Theorie immer wieder diskutiert wurden; sondern auch von beträchtlicher ästhetischer Souveränität. Ähnlich wie in BERBERIAN SOUND STUDIO bildet auch hier das Kino der 70er Jahre Hintergrundrauschen und Werkzeugkasten zugleich. Beherzt bedient sich Strickland des vom Autoren-, Pop- und Para-Cinema in einer kaum aufgliederbaren Interzone von Maverick-Kino und Kunstambition erarbeiteten Vokabulars zur Darstellung entgrenzt-flirrender Zustände, und amalgamisiert daraus ein sehr zeitgenössisches Kunstmärchen. Stricklands Orientierungspunkte sind Jess Franco und Fassbinder, Stan Brakhage und Juraj Herz, Harry Kümel und León Klimovsky - und doch ist sein Kino mehr als lediglich epigonales Zitatekino.

THE DUKE OF BURGUNDY ist ein Film, der sehr aufrichtig, sehr originär davon handelt, sich mit Haut und Haar seinem Begehren hinzugeben - und vom Schmerz, der daraus resultiert. Ein Film voller verspiegelter Kristallbilder und liebreizender, immer wieder unter die Haut gehender Sounds, der geradezu danach verlangt, im Kino mit dem ganzen Körper genossen zu werden. Ein bittersüßes Meisterwerk, das in die Vergangenheit blickt - und dabei die Möglichkeiten eines zukünftigen, meta-modernistischen Kinos in Aussicht stellt.

Tom Dorow (Einleitung + Katalin Varga), Hendrike Bake (Berberian Sound Studio), Thomas Groh (The Duke of Burgundy)