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Wer hat Angst vor Sibylle Berg?

Talent zur Selbstreflexion

Gelassen und beiläufig, im besten Sinne unfertig wirkt WER HAT ANGST FÜR SIBYLLE BERG?, der darauf verzichtet, seine Hauptdarstellerin in allen Facetten zu ergründen, Platz für Zufälliges und Spontanes lässt, eine gute Distanz zum Sujet wahrt und nicht versucht, eine Biografie zu psychologisieren.

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"Wenn ich mit 40 nicht davon leben kann, bringe ich mich um", hat Sibylle einmal gedacht und damit ihren Beruf als Schriftstellerin gemeint. In WER HAT ANGST VOR SIBYLLE BERG? erinnert sie sich an diese Zeit, und zwar nicht mit dem Gestus von einer, die es geschafft hat, sondern mit der Einsicht, dass sie es zwar im Gegensatz zu vielen anderen zu Bekanntheit und Ehre gebracht hat, aber dann doch kein Haus im Tessin hat, sondern nur eine Wohnung, die, wie sie sagt "der Bank gehört". Vor knapp 20 Jahren hatte Berg ihrem Debütroman "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" eine Anrede an die Leserinnen vorangeschickt, dass jedes verkaufte Buch einen Stein für ihr Tessiner Eigenheim bedeuten würde. Im Film wird sie beim Bücher-Signieren von einem Fan darauf angesprochen - Berg reagiert unvorbereitet, ein bisschen verlegen, dann aber doch wieder gewohnt witzig und schlagfertig.

Die beiden Filmemacherinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Baier haben Sibylle Berg begleitet und einen Dokumentarfilm über sie gemacht, der sehr offen mit seiner Protagonistin, ihrem Leben, ihren Zweifeln und ihren Vorstellungen von Karriere und der Schriftstellerei umgeht. Der Einstieg des Films nimmt dabei auf mehrfache Weise das Thema des Scheiterns vorweg: Sibylle Berg besucht die Sheats Goldstein Residence in L.A., einen modernistischen Palast des Star-Architekten John Lautner, und versucht, sich vor laufender Kamera mit dem millionenschweren Besitzer James Goldstein zu unterhalten. Den Regisseurinnen, den "Doku-Schlampen" wie Berg sie nennt, zufolge, wollte Berg einfach mal in dieses Haus und nutzte den Dokumentarfilm quasi als Türöffner. Warum diese Szene überhaupt im Film geblieben ist, lässt sich erst hinterher erklären: Das Gespräch zwischen Berg und Goldstein scheitert an ihrem Englisch und dem störrischen, mundfaulen Interviewpartner. Berg wirkt dadurch auf der einen Seite angreifbar, auf der anderen Seite aber auch extrem souverän, wenn sie sich zur Kamera dreht und die Regisseurinnen und die unangenehme Situation thematisiert. Kein Star, der sich hier präsentiert, eher ein Fan, eine Bescheidene, kokett in dieser Performance vielleicht, aber nicht die Person, die man bei allem Ruhm, der Sibylle Berg eben doch umgibt, erwartet hätte.

Diese Eigenschaft – nicht wehleidig, aber nüchtern das eigene Leben zu betrachten - wird im Film immer wieder durch Einblendungen aus Sibylle Bergs Twitter-Account unterstrichen und zieht sich wie ein roter Faden durch die Dokumentation, die oftmals wie ihr eigenes Making-Of wirkt. Schön achronologisch und schlaglichthaft werden Etappen von Bergs Leben beleuchtet, etwa die anfängliche, massive Ablehnung der Verlage, ihr Auto-Unfall, ihre Theaterstücke. Katja Riemann und Helene Hegemann kommen als prominente Freundinnen zu Wort und sonst vor allem Berg selbst, die immer cool genug wirkt, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass dieser Film ihr Vehikel zu Selbstdarstellung werden könnte. "Ich mach Randgruppen-Scheiße, das bringt nix", sagt sie einmal, und trotz ihrer allgemeinen medialen Präsenz glaubt man ihr das.

Gelassen und beiläufig, im besten Sinne unfertig wirkt WER HAT ANGST VOR SIBYLLE BERG?, der darauf verzichtet, seine Hauptdarstellerin in allen Facetten zu ergründen, Platz für Zufälliges und Spontanes lässt, eine gute Distanz zum Sujet wahrt und nicht versucht, eine Biografie zu psychologisieren. Gerade weil Köhler und Baier Sibylle Berg so viel Platz lassen, schälen sich im Laufe der filmischen Beobachtung Aspekte der öffentlichen und privaten Person Berg heraus: eine klare und feministische Linie, ein trockener, selbst-ironischer Humor und auch ein Wissen um die Rollen, die man spielt, eben auch im eigenen Film. "Man spielt eine Rolle, sobald man das Haus verlässt" ist ein weiterer, fast zufällig aufgenommener Randkommentar von Sibylle Berg im Film. Und gerade dieses kluge Schauen auf das Selbst macht das Zuschauen auf diese Frau so spannend, die offensichtlich mittlerweile von der Schriftstellerei leben kann.

Toby Ashraf

Details

Deutschland 2015, 84 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler
Drehbuch: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler
Kamera: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler
Schnitt: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler
Verleih: Zorro Filmverleih
FSK: oA
Kinostart: 28.04.2016

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