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Victoria

Blaue Stunde in Berlin

Der in einer einzigen Einstellung gedrehte Film folgt der jungen Spanierin Victoria durch eine Berliner Nacht. Vor dem Club trifft Victoria Sonne und seine Freunde. Sie lassen sich treiben, trinken noch ein letztes Bier, sehen von den Dächern auf die Stadt herunter. Als die Nacht ihrem Ende entgegen geht trifft Victoria eine fatale Entscheidung.

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Knapp 2 ½ Stunden dauert VICTORIA, von der späten Nacht bis in die frühen Morgenstunden. In dieser Zeit folgt der Film der jungen Spanierin Victoria (Laia Costa) durch Berlin. Aus dem Club geht es auf die Straße, wo Victoria Sonne (Frederick Lau) und seine drei Freunde Boxer, Blinker und Fuß trifft. Die „echten“ Berliner sind ein bisschen prollig aber irgendwie auch ganz niedlich und gute Kumpel. Victoria, die neu in Berlin ist und noch keine richtigen Freunde hat, lässt sich mittreiben, trinkt noch ein letztes Bier, und schiebt ihr Fahrrad neben ihnen durch die leeren, stillen Straßen. Ein Umweg führt zum nächsten. Victoria klettert mit den Jungs aufs Dach und sieht auf die Stadt, spielt Sonne auf dem Klavier vor und verliebt sich ein wenig in dieser magischen fließenden Stimmung, in der alles möglich scheint und die Unzulänglichkeiten des Tages weit weg sind. Als Sonne und seine Freunde Hilfe brauchen, bei einer Unternehmung, von der man nichts Gutes ahnt, sagt Victoria kurzentschlossen zu, vielleicht aus Abenteuerlust, oder damit die Nacht noch nicht aufhört. Es ist eine fatale Entscheidung. Plötzlich wird aus der Party ein Krimi und aus den Jugendlichen werden Outlaws. Und als das graue Morgenlicht über der Stadt aufgeht, haben sich die Leben aller für immer verändert.
VICTORIA ist in einer einzigen Einstellung ohne Pause gedreht. Dreimal haben sich die Schauspieler ohne Pause durch die Stationen einer langen Nacht improvisiert, bis Sebastian Schipper (ABSOLUTE GIGANTEN) zufrieden war. Ebenso beeindruckend sind die Leistungen von Ton und Kamera, die immer zugegen sind, ohne sich je in den Vordergrund zu spielen. Entstanden ist ein Film, der alles andere als perfekt und auch nicht immer vollkommen glaubwürdig ist, aber einen einzigartigen Fluss entwickelt. Wie die Personen, so sind auch die Zuschauer in den Ereignissen der Nacht gefangen. Es gibt keine Abkürzungen. Alles dauert so lange, wie es eben dauert. Von den radebrechend zweisprachigen Kennenlern-Dialogen in der Disko bis zum herzzerreißenden Abschied in einem anonymen Hotelzimmer ist VICTORIA ein einziger langer Ritt, der in angetrunkenen Schlangenlinien immer tiefer an den Abgrund führt und immer existentiellere Fragen stellt. Am Ende taumeln die Zuschauer wie Victoria selbst wieder ans Tageslicht: mitgenommen, etwas verkatert, seltsam erlöst.
Damit erzählt VICTORIA ebenso wie OH BOY! von einem Berlin, dass es trotz Gentrifizierung, Wirtschaftsaufschwung, Wohnungsknappheit und Start-Up-Kultur immer noch gibt. Das Berlin der jungen Drifter und Träumer, in dem es möglich ist, sich jahrelang mit irgendwelchen Jobs über Wasser zu halten und die großen Lebensfragen und Statussymbole zu ignorieren. Aber bei Schipper ist die Luft ist schon deutlich dünner geworden, das Personal ärmer, die Zukunftsfragen drängender. Victoria, Sonne und die anderen sehen keine rosige Zukunft vor sich, bereits jetzt gehören sie zu den Abgehängten. Das Gefühl der Freiheit, das Berlin immer noch bietet, findet nur noch des Nachts und unter Drogen wirklich statt und die Lösung, die VICTORIA wie ein postmodernes Märchen schließlich aus dem Hut zaubert, ist so unromantisch materialistisch, wie der graue Tag, der auf die Stadt wartet.
Besonders gut ist Frederick Lau, der zuletzt als schwuler Nazi Gries in TOD DEN HIPPIES!! ES LEBE DER PUNK zu sehen war. Und besonders schön ist das Nachtlicht, das sich unmerklich von tiefstem Schwarz über zauberhaftes Blau zum Grau eines verkaterten Morgens wandelt. Allein das Licht macht VICTORIA zu einer einmaligen Kinoerfahrung.

Hendrike Bake

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