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Toni Erdmann

Knallhart am Klischee vorbei

Eine Vater-Tochter-Geschichte, der Vater Winfried ein freundlicher Melancholiker, der durch kleine Blödeleien überlebt, die Tochter Ines eine knallharte Geschäftsfrau. Maren Ades Cannes-Überraschungserfolg TONI ERDMANN ist sehr komischer, sehr trauriger Film über Humor als Weg, immerhin, die gemeinsame Traurigkeit anzuerkennen.

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So viele Fallstricke: zweieinhalb Stunden Komödie, eine Vater-Tochter-Geschichte, der Vater Winfried ein freundlicher Melancholiker, der durch kleine Blödeleien überlebt, hart am beliebten Klischee des Alt-68ers entlang, der die Lebensrealitäten des beschleunigten Kapitalismus verkennt. Die Tochter Ines eine knallharte Geschäftsfrau, knallhart am Klischee der verbitterten, erfolgreichen, einsamen Frau entlang. Maren Ades TONI ERDMANN gleitet diskret am Klischee vorbei. In jedem anderen Film würde Ines irgendetwas finden, das auch die Zuschauer und Zuschauerinnen erlöst: die Liebe, ihr Gewissen, einen weniger brutalen Job, am besten irgendwas mit Kindern. Bei Maren Ade kommt das nicht in die Tüte, Ines sucht sich schließlich einen noch härteren Job.

Die Bewegung des mehr oder weniger eleganten, manchmal auch ungeschickten und immer komischen Ausweichens gehört bei Ade zum Programm. Winfried, 60, netter Kerl mit Sinn für Späßchen, reist nach dem Tod seines alten Hundes nach Bukarest, um seine Tochter Ines, taffe Unternehmensberaterin, zu besuchen. Sie ignoriert ihn, als er mit Spaßgebiss und Sonnenbrille bei einem Kundengespräch im Hotelfoyer neben ihr herläuft, schließlich hat sie gerade einen harten Modernisierungsplan durchzudrücken. Ines schleppt Winfried auf Empfänge, auf denen er deutlich fehl am Platz ist, irgendwann wehrt er sich mit einem Witz. Am Abend versucht er es auf die ernste Tour: „Sag mal bist du eigentlich glücklich?“. Ines kann das gerade deutlich nicht gebrauchen. Aber als Winfried abreist, steht sie auf dem Balkon und heult. Was sie nicht weiß ist, das Winfried durchaus noch da ist. Bei einer Girls Nacht mit Ines scheußlichen Quasi-Freundinnen taucht er wieder auf, mit Perücke, schlecht sitzendem Anzug und Spaßgebiss, als TONI ERDMANN Personality Coach, der Ion Tiriacs Schildkrötentrauma therapiert.

TONI ERDMANN ist unglaublich komisch, auch wenn Winfrieds Witze als Toni nur mittelmäßig sind, und er sich oft genug dafür entschuldigt: war doch nur Spaß. Der Humor liegt in einer verzögerten Situationskomik, in den Reaktionen, Unsicherheiten, auch von Winfried selbst. Das ist kein Fremdschämen, weil Ade ihre Figuren nicht denunziert. Außerdem ist die Situation so verzweifelt, dass nur ein hilfloser Humor sie halbwegs – natürlich nicht ganz – retten kann.

Maren Ade nennt ihren Film „ein ganz schön melancholisches Brett“. Jenseits des Humors gibt es in TONI ERDMANN eine existentielle Verzweiflung. Ines hat jede Hoffnung auf die Möglichkeit moralischen Handelns verloren, und als sie ihrem Vater den Grund demonstriert, wird der zu einem schweigsamen großen Pelztier mit hängendem Kopf. In mancher Hinsicht ist TONI ERDMANN wie Mike Leighs Filme, die auch immer wieder auf einem Alltagshumor beharren, nur ohne Hoffnung. Wo Mike Leighs HAPPY-GO-LUCKY vor acht Jahren den Humor und das Herumalbern als Überlebensstrategie in einer beängstigenden Welt verteidigte, ist TONI ERDMANN ein sehr komischer und trauriger Film darüber, dass das nicht reicht, um die Finsternis zu besiegen. Der Humor ist hier am ehesten noch ein Weg, die gemeinsame Traurigkeit zu erkennen.

Am besten gelingt das in einer Szene, in der „Botschafter Toni Erdmann“ am Klavier und Ines als „Whitney Schnuck“ auf einer kleinbürgerlichen Familienfeier in Bukarest Whitney Houstons Song „The Greatest Love of All“ zum Besten geben. Ines lässt vier Einsätze vorbeiziehen, bevor sie zögerlich einsteigt: „I believe that children are our future“. Das ist noch dahingehauen wie ein Facebook-Meme, an das eh keiner richtig glauben soll. Aber dann hängt sie sich in die Schnulze rein, immer zwischen Übertreibung und Affirmation, und die Zeilen „No matter what they take from me, they can’t take away my dignity“ donnert sie so hin, dass ganz deutlich wird, wie genau Ines Bescheid weiß: Die Würde ist immer das, was zuerst drauf geht, bei den Leuten, für deren Entlassung sie verantwortlich ist, und selbstverständlich auch bei ihr selbst. Keine Würde, nirgends.

Tom Dorow

Details

Deutschland 2016, 162 min
Genre: Drama, Komödie
Regie: Maren Ade
Drehbuch: Maren Ade
Kamera: Patrick Orth
Schnitt: Heike Parplies
Verleih: NFP
Darsteller: Sandra Hüller, Peter Simonischek
FSK: 12
Kinostart: 14.07.2016

Website
IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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