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Tausendschönchen

Unersättlich, anarchisch

Die beiden Maries verkörpern einen Hunger, der sicherlich auch gesamtgesellschaftlich existierte, aber TAUSENDSCHÖNCHEN vor allem zu einem feministischen Meisterwerk macht.

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An einer großen gusseisernen Maschine dreht sich ein massives Zahnrad, dazu läuft Marschmusik. Schnitt. Dokumentaraufnahmen zeigen Luftbilder von Bombenabwürfen. Schnitt. Wieder das Zahnrad. Wieder die Bomben. Das ist der Zustand der Welt. Marie 1 und Marie 2 (Jitka Cerhová und Ivana Karbanová) sitzen auf den Holzbohlen einer Badeanstalt. Sie bewegen sich wie Marionetten und jede Bewegung macht ein knarrendes Geräusch wie eine eingerostete Tür. Sie unterhalten sich. „Niemand versteht etwas.“ „Die Welt ist verdorben.“ „Dann macht es doch nichts, wenn wir auch verdorben sind.“ Věra Chytilovás weltberühmter Experimentalfilm entstand 1966, zwei Jahre vor dem Prager Frühling, und wurde kurz nach Erscheinen verboten. In collageartig aneinander gereihten Tableaus, Spielszenen und gelegentlichen Animationen, wild Stil, Farbe und Tempo wechselnd, entwirft Chytilová eine mechanisierte, spaßbefreite Regelwelt, in der die beiden Maries herumstromern und Unheil anrichten. Sie verabreden sich mit älteren Männern und benehmen sich dann bei Tisch daneben, vor allem aber essen und trinken sie, unersättlich, anarchisch, disruptiv. Sie verkörpern einen Hunger, der sicherlich auch gesamtgesellschaftlich existierte, aber TAUSENDSCHÖNCHEN vor allem zu einem feministischen Meisterwerk macht. Der Film quillt über von traditionell weiblicher Symbolik – Äpfel, Schmetterlinge, Schlösser, Milch, Blümchen – und nimmt sie nicht ernst. Lacht über sie, wie die Maries, die ihre Weiblichkeit vor allem performativ wahrnehmen, um dann mit großer Freude aus der Rolle zu fallen. „Was machst du?“, fragt Marie 1 einmal „Eine Jungfrau sein“, antwortet Marie 2. „Wir nehmen uns vorsichtig etwas, so dass niemand etwas merkt,“ sagt Marie, und matscht dann mit der Hand mitten ins Buffet.

Toni Ohms

Details

Originaltitel: Sedmikrasky
Tschechoslowakei 1966, 73 min
Sprache: Tschechisch
Genre: Komödie, Experimentalfilm
Regie: Vera Chytilova
Drehbuch: Vera Chytilova, Ester Krumbachova
Kamera: Jaroslav Kucera
Musik: Jiri Sust, Jiri Slitr
Verleih: trigon film
Darsteller: Ivana Karbanova, Jitka Cerhova, Maria Ceskova, Jirina Myskova, Marcela Brezinova
FSK: 16
Kinostart: 27.04.2023

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IMDB

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