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Nocturama

Totentanz im Kaufhaus

Eine Gruppe junger Leute bewegt sich, koordiniert, durch Paris. Sie werden Bomben legen und sich danach in einem Kaufhaus verstecken, wo sie warten wollen, bis die Lage sich beruhigt.

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Ein Rundblick in die Nacht, in die Finsternis der Seele. NOCTURAMA ist strikt in drei Akte unterteilt. Der erste erzählt von den Vorbereitungen eines Terroranschlags. Junge Leute verschiedener Ethnizitäten und Klassen laufen durch Straßen und Gebäude, während die Steadycam ihnen folgt und ihre Anspannung auf dem Weg zu einer Gewalttat, über deren Gründe wir nichts wissen, aufzeichnet. Der Stil und die Bezugslosigkeit der Aktionen erinnern an Alan Clarkes Nordirland-Film ELEPHANT (1989), den zuletzt schon Gus van Sant in seinem ebenfalls ELEPHANT (2003) genannten Film über Highschool-Massaker und Steve McQueen in HUNGER (2008) zitierten. Koordinierte Taten in Serie, nervöse körperliche Aktionen, deren Gründe unwichtig sind, deren Folgen ein Einbruch des traumatischen Realen in das neurotische Phantasma sind: die Ermordeten sind wirklich tot.

Der zweite Teil erinnert an George A. Romeros DAWN OF THE DEAD, in dem sich Überlebende einer Zombie-Apokalypse in einer Shopping-Mall verschanzen, und der Überfluss der Konsumgesellschaft sie verschlingt. Auch in NOCTURAMA flieht die heterogene Gruppe in ein Luxuskaufhaus, wo sie über das Wochenende versteckt bleiben will, bis die Lage sich beruhigt hat. Zwischen Langeweile, Konsum und Verzweiflung zerfällt die Gruppe. Das zielgerichtete Ballett auf dem Weg zur Tat wird zu einem individualistischen, konsumistischen Totentanz. „Sieh mich an, hab ich nicht den perfekten Stil?“ wird einer der letzten Sätze sein, der gesprochen wird. Der dritte Akt zeigt die Reaktion des Systems, der Polizei: gründlich, effizient und brutal.

Bertrand Bonellos Film ist pures Kino. Mit den tatsächlichen Terroranschlägen der letzten Jahre hat NOCTURAMA wenig bis nichts zu tun. Die Anschläge, die hier durchgeführt werden, sind noch als symbolischer Akt gedacht und gegen Institutionen der Herrschaft gerichtet, wobei Tote allerdings bereits in Kauf genommen werden, und die Gewalt bereits dabei ist, sich zu verselbstständigen und eine mörderische Kriegsmaschine in Bewegung zu setzen. Aber der Geist, der hier beschworen wird, ist noch einer der politischen Militanz, der eher den 70er und 80er Jahren als der Gegenwart entspringt, gelegentlich aber noch durch linke Theorie spukt, als leninistische Militanz bei Žižek, als Aufstand der „Multitude“ bei Hardt und Negri. Man will „ein Zeichen setzen“, wofür und wogegen ist unklar, aber auch unwichtig.

Die Disruption findet nicht statt, der Staat macht weiter. Die Waren stiften noch ein wenig Restidentität aus zweiter Hand – der Junge, der sich mit einem Satin-Bademantel, geilen Sounds und einer Spielzeugwumme in die Badewanne gelegt hat, und nun glaubt, den „perfekten Stil“ gefunden zu haben, imitiert wieder das Kino, nämlich den Supergangster Tony Montana in Brian de Palmas SCARFACE. Andere spielen genderfluide Stile durch, ein junger Typ spielt eine Diva, während im Playback Shirley Basseys Version von „My Way“ läuft. Das ist das Glück, die „Authentizität“: ein Zitat, ein Spiel, ein bisschen Plunder, all das dennoch „wahrer“ als der militante Aktivismus, der sich als nur eine weitere Selbstinszenierung erweist.

Bonellos Film verweist auf eine Leerstelle, auf die Finsternis im Widerstand, auf eine Politik, die den Mangel beheben will, und die sich selbst aufhebt, wenn der Mangel – und sei es vorrübergehend – behoben ist. Seinen Attentätern gelingt es nicht, zu politischen (oder gar revolutionären) Subjekten zu werden. Ob es eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines politischen Subjekts gibt, daran hegt NOCTURAMA erhebliche Zweifel. Den Überblick haben nur die Helikopter der Macht. NOCTURAMA ist ein Film der Finsternis und Verzweiflung.

Tom Dorow

Details

Frankreich 2016, 130 min
Genre: Thriller
Regie: Bertrand Bonello
Drehbuch: Bertrand Bonello
Kamera: Léo Hinstin
Schnitt: Fabrice Rouaud
Musik: Bertrand Bonello
Verleih: Real Fiction
Darsteller: Vincent Rottiers, Finnegan Oldfield, Laura Valentinelli, Jamil McCraven
Kinostart: 18.05.2017

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