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Neue Notiz

Mr. Long

Reise ins Totenreich

Nach einer Schießerei erwacht der chinesische Profikiller Mr. Long in einer Wellblechsiedlung in einer japanischen Stadt und baut sich eine neue, friedliche, Existenz als Suppenkoch auf.

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(Achtung: Text enthält Spoiler!) Der neue Film des japanischen Regisseurs Tanaka Hiroyuki aka Sabu lief in der Berlinale im Wettbewerb. MR.LONG ist ein seltsamer Film, in dem ein Auftragskiller zum freundlichen Suppenkoch wird, eine Geschichte, die, wenn man sie als eine schlichte, realistische Erzählung nimmt, kaum glaubhaft ist. Aber Sabu stellt eine ganze Reihe Markierungen auf, die darauf hinweisen, dass sein Film gerade eben keine realistische Erzählung ist.

Zu Beginn fährt die Kamera an den als Pastell-Regenbogen ausgeleuchteten Fenstern von Nobelkaufhäusern der taiwanesischen Großstadt Kaohsiung vorbei, dann wird alles rot. Ein Schwenk von der Decke eines mit roten Lampions behängten Tempeleingangs führt zu einem Altar, wo sich die Farben der Kaufhäuser in einem Blumenmeer wiederholen. Konsum, Blut, und der Tod sind die wichtigsten Motive, um die es in diesem Film gehen wird.

Vom Altar schwenkt die Kamera nach rechts, und die schäbigen Hinterzimmer des Tempels kommen ins Bild, wo vier Gangster auf einen fünften warten, den sie verachten. Auf einmal breitet sich ein roter Blutfleck auf der weißen Kleidung des Neuankömmlings aus, der Mann fällt nach vorn, dahinter steht ein in eleganter schwarzer Kleidung, irgendwo zwischen Kenzo und Kung Fu, gekleideter, großer, schlanker, sehr schöner Mann (Chen Chang). Long ist ein eleganter, lautloser Killer, trotz einer auf ihn gerichteter Pistole steht außer ihm schnell niemand mehr. Nach dem er die Gangster erledigt hat, geht er in ein Restaurant, an schwerfällig wirkenden, schwitzenden Typen vorbei, die aussehen wie der Haufen, den er gerade massakriert hat, und erstattet Bericht, während er und sein Boss entspannt Dim Sum zubereiten. Longs nächster Auftrag ist in Japan.

Der Auftrag in Japan geht schief, und in der letzten Szene der Flucht findet etwas statt, was in filmischen (und anderen) Erzählungen als Bifurkation bezeichnet wird, und was vielleicht eines der typischsten Merkmale postmoderner Filmerzählungen geworden ist. Die Geschichte verzweigt sich in zwei mögliche Lesarten, die gleichzeitig weiterverfolgt werden. Sabu inszeniert den Tod seines Helden, zeigt aber unmittelbar danach, dass dieser noch lebt. Hier sieht das so aus: Long schleppt sich schwer verwundet in einen Lastwagen. Einer seiner Gegner blickt in die Ladefläche, auf der Long sich versteckt, sieht die Blutspuren am Boden, blickt hoch, flucht, und wendet sich ab. Sabu impliziert, dass der Gangster Longs Leiche entdeckt hat, und wütend ist, dass er den Killer nicht mehr lebend erwischt hat. Seine Kumpane geben die Verfolgung auf. Aber dann steht Long in seiner schwarzen Kleidung vor weißen Wänden, nur ein wenig Grün ragt als Zweig im Hintergrund ins Bild. Ist Long noch einmal davon gekommen, war das eine herkömmliche zeitliche Auslassung? Natürlich nicht, aber es sind erst ein paar Minuten des Films vergangen, und die Szene lässt sich leicht vergessen. Long ist tot. Was folgt, ist sein (glücklicher) Weg ins Totenreich.

Long ist in einem Slum erwacht, einer verlassenen Wellblech-Siedlung, in der sonst nur Junkies vor sich hin dämmern. Wie aus dem Nichts erscheint ein kleiner Junge und liefert Long Zutaten für eine Suppe. Long findet einen Topf, Wasser und Salz, und gibt dem Jungen zu essen. Bald darauf erscheinen hilfreiche Geister, die an die Helferfiguren in Kafkas Erzählungen erinnern. „Nachbarn“, ein bisschen zu fröhliche, zu gut gesättigte Japaner tauchen auf, nerven ein bisschen zu sehr, aber einer ist Elektriker, einer Tischler, einer Fleischer, einer hat einen Gemüsegarten. Sie bieten Long eine neue Existenz, den Traum einer erfolgreichen Suppenküche vor einem buddhistischen Tempel. Während Long kocht, stehen sie immer daneben und sehen beglückt zu. Die Figuren sind Geisterführer, Psychopompoi, die Long den Weg in die Unterwelt zeigen, und ihm dabei vorführen, was er verloren hat.

Man kann den Film auch anders und gewöhnlicher sehen, wie immer im Fall einer Bifurkation. Long überlebt, trifft nette Leute und wird ein besserer Mensch, bis ihn die Vergangenheit einholt. Sabu hält diese Sichtweise halbwegs offen, aber manches bleibt dann unklar oder wirkt albern konstruiert. Toller Film.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Ryu San
Deutschland/ Japan/ Taiwan/ China/ Hongkong 2017, 129 min
Sprache: Japanisch, Mandarin
Genre: Drama, Thriller
Regie: Sabu
Drehbuch: Sabu
Kamera: Koichi Furuya
Schnitt: Georg Petzold
Musik: Junichi Matsumoto
Verleih: Rapid Eye Movies
Darsteller: Chen Chang, Yiti Yao, Sho Aoyagi, Runyin Bai, Masashi Arifuku
Kinostart: 14.09.2017

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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