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Imagine Waking up Tomorrow and all Music Has Disappeared

Hu Ha! Bumm Bumm!

Bill Drummond, fröhliches enfant terrible des Britpop, bringt in seinem Musik-Projekt „The 17“ Land- und Fabrikarbeiter, Seniorinnen, Taxifahrer, Nonnen, Bauarbeiter, Kinder, Kneipenbesucher und Berliner zum Singen.

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Als ich mir allein in der Wohnung den Dokumentarfilm IMAGINE WAKING UP TOMORROW AND ALL MUSIC HAS DISAPPEARED ansah, fing ich nach etwas über einer Stunde an, seltsame Brummtöne von mir zu geben. Da es in IMAGINE unter anderem darum geht, unterschiedlichste Leute, Land- und Fabrikarbeiter, Seniorinnen, Taxifahrer, Nonnen, Bauarbeiter, Kinder, Kneipenbesucher und Berliner zum Singen zu bringen, ist das auch kein Wunder. Fast jeder, der diesen Film sieht, wird irgendwelche Töne von sich geben. Er zeigt das Projekt „The 17“ des Ex-Popstars Bill Drummond.

Drummond war der Anti-Establishment-Mastermind des Pop von 1988 bis 1992. Mit The KLF, The Justified Ancients of Mumu, The Timelords und Zodiac Mindwarp produzierte er ebenso subversive wie bescheuert-witzige Chartshits in Serie und veröffentlichte das Buch „The Manual. How to Have a Number One the Easy Way“. Bei den Brit Awards 1992, wo KLF als beste britische Band ausgezeichnet werden sollten, spielten sie ihren Hit „3 a.m. Eternal“ mit der Grindcore-Band Extreme Noise Terror in einer brachialen und antagonistischen Version, die damit endete, dass Drummond mit einer Maschinenpistole Platzpatronen ins Publikum schoss. Vor den Eingang der After-Show-Party legten Drummond und sein Partner Jimmy Cauty ein totes Schaf mit der Aufschrift: „I died for ewe – bon appetit“. Danach beschlossen Drummond und Cauty, aus dem Musikgeschäft auszusteigen. Das taten sie gründlich: Sie ließen ihren Backkatalog löschen. Ihre alten Platten und CDs gibt es nicht mehr zu kaufen, und auch bei iTunes oder Streaming-Diensten erscheinen sie nicht. Schließlich verbrannten Drummond und Cauty eine Million Pfund, die Reste ihrer Einnahmen mit The KLF, vor laufenden Kameras.
Drummond verstand schon seine Arbeit im Pop-Geschäft als Kunst, nach seiner Pop-Karriere stänkerte er höchst amüsant gegen den Kunstbetrieb, indem er gleichzeitig zum Turner-Preis den „Worst British Artist“-Award unter den Turner-Preis-Nominierten ausschrieb. Der Preis für den/die schlechteste/n Künstler/in war doppelt so hoch dotiert wie der offizielle Turner-Preis. 1993 gewann Rachel Whiteread beide Preise, akzeptierte aber nur den Turner-Preis.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen hatte Drummond danach auch genug von Provokationen gegenüber dem Kulturbetrieb. Unter dem Projekttitel „Penkiln Burn“ richtete er seine Arbeit auf Projekte aus, die sich dem Betrieb entziehen sollen. In vielen seiner Aktivitäten geht es um das Teilen und Verteilen, aber auch um kollektive Kunstproduktion und Kunsterfahrung. Drummond zieht Striche und Kreise auf Landkarten und verteilt entlang der Linien Suppen und Kuchen. Heute ist Drummond ein sehr sympathischer Herr Anfang 60, dem seine Kinder die Sache mit der Million Pfund übelnehmen, der aber sonst sehr entspannt wirkt. Sein Projekt „The 17“, das im Film IMAGINE WAKING UP ONE MORNING AND ALL MUSIC HAS DISAPPEARED mit der Kamera begleitet wird, folgt einfachen Regeln. Drummond nimmt die Stimmen von Leuten auf, die nach bestimmten Partituren („Scores“) einzelne Töne oder einfache Tonfolgen singen. Am Ende des Projekts werden die Aufnahmen gemischt, der Mix wird einmal gehört und dann werden die Aufnahmen gelöscht. Drummonds Projekt ist eine Kritik der totalen Verfügbarkeit von Musik, die gleichzeitig dazu führt, dass die Bedeutung einzelner Stücke immer mehr verschwindet. Aber „The 17“ ist auch ein kollektives Vergnügen: Wenn Drummond in seinem abgewetzten Ledermantel in eine Fabrik stapft und die Arbeiter während ihrer Pause davon überzeugen will, vor seinem Mikrofon zu singen, trifft er zunächst auf eine Mischung aus Ablehnung und erheiterter Abwehr. Am Ende singen alle mit, und wenn die Kamera die Fabrik verlässt, trällern immer noch einige fröhlich ihre einfachen Tonfolgen. Hu Ha! Bumm Bumm! Drummond sagt, dass die Musik, die Menschen machen würden, wenn plötzlich alle Musik, alle Kenntnis von Musik, alle Erinnerung an sie verschwunden wäre, ungefähr so klingen müsste wie „The 17“. Wesentlich anders war das Konzept von KLF auch nicht. „Wenn du ein Musiker bist, hör auf, deine Instrumente zu spielen, oder besser noch, verkauf den Krempel“, empfahlen Drummond und Cauty in „The Manual“. Dass dadurch äußerst vergnügliche Kunst entstehen kann, hat Drummond schon oft bewiesen. IMAGINE macht jedenfalls großen Spaß. Eine der schönsten und rührendsten Performances von „The 17“, die im Film zu sehen ist, fand übrigens in Berlin statt.


Bill Brummond aka Penkiln Burn: www.penkilnburn.com/
The Manual: How to have a Number One the Easy Way: http://freshonthenet.co.uk/the-manual-by-the-klf/

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared
Deutschland/Schweiz/Großbritannien 2015, 83 min
Genre: Dokumentarfilm, Musikfilm
Regie: Stefan Schwietert
Drehbuch: Stefan Schwietert
Kamera: Adrian Stähli
Schnitt: Frank Brummundt, Florian Miosge
Musik: Jan Tilman Schade
Verleih: Real Fiction
FSK: oA
Kinostart: 22.10.2015

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