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Im Labyrinth des Schweigens

Urszene deutscher Selbsterkenntnis

Als in Deutschland niemand mehr etwas von den Verbrechen der Nazis wissen will, nimmt ein junger Staatsanwalt gegen alle Widerstände die Ermittlungen gegen einen ehemaligen KZ-Aufseher auf. IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS erzählt vom Zustandekommen der Auschwitzprozesse als einer Art Urszene deutscher Selbsterkenntnis.

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Filme über die deutsche Geschichte sind immer auch Filme über die deutsche Gegenwart, aus der über die Geschichte berichtet wird. Giulio Ricciarellis Film IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS handelt ebenso von der Verdrängung der deutschen Vergangenheit in den fünfziger Jahren, wie er sich gegen die heute beliebte Rede vom „Schuldkomplex“ und „Nationalmasochismus“ der Deutschen, mit dem doch langsam einmal Schluss sein müsse, wendet.
Dabei geht es, nur in wenigen Punkten verdichtet, um die tatsächlichen Ereignisse, die 1958 zum ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main führten. Der junge Staatsanwalt Radmann, der eigentlich noch ein paar Jahre lang Verkehrsdelikte bearbeiten soll, begegnet dem (historischen) Journalisten Thomas Gnielka. Dessen Freund, der jüdische Kunstmaler Simon Kirsch hat in einem Lehrer einen ehemaligen SS-Mann und KZ-Wächter erkannt. Weil keine Polizeistelle eine Anzeige aufnehmen will, sind Gnielka und Kirsch zur Staatsanwaltschaft gekommen, wo sie ebenso abgebügelt werden sollen. Radmann beginnt zu recherchieren, und findet schnell heraus, dass alle Kriegsverbrechen bereits verjährt sind, außer Mord. Ob denn in den Lagern auch Morde begangen wurden, fragt er Kirsch. Kirsch lacht verzweifelt über Radmanns Naivität.
Regisseur Ricciarelli, Jahrgang 1965, zeigt das Zustandekommen der Auschwitzprozesse als eine Art Urszene deutscher Selbsterkenntnis, und mindestens juristisch und journalistisch war der Prozess das sicher auch. Dennoch waren sämtliche Argumente der Ausschwitz-Verteidiger bei den Majdanek-Prozessen in den 80er Jahren wieder zu hören und gewannen in der öffentlichen Meinung große Popularität. Auch die Debatte um die Verjährung von Mord im Jahr 1979 wäre ohne die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie HOLOCAUST möglicherweise anders ausgegangen.
Kino und Fernsehen schufen mit wenigen Filmen und Serien – NACHT UND NEBEL, HOLOCAUST, SHOAH, SCHINDLERS LISTE - das Bewusstsein dafür, dass nicht mehr die Frage, die Oberstaatsanwalt Friedberg in IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS stellt, den Diskurs bestimmt: „Wollen Sie, dass sich jeder junge Mensch fragt, ob sein Vater ein Mörder war?“. Stattdessen ist heute Radmanns Position in der Öffentlichkeit ein, wenn auch umstrittener und immer wieder utilisierter Konsens: Das Wissen über Auschwitz ist wichtig, „damit man heute das Richtige tut“. Guido Knopps Geschichtsvernichtungs-Fernsehen war dagegen seit den 80er Jahren vor allem für die Produktion des Bewusstseins zuständig, schon alles über „die Nazis“ zu wissen, bzw. eigentlich schon viel zu viel zu wissen. Knopps pompöser Doku-Kitsch war eine notwendige Voraussetzung für ahistorisch-mythische nationale Historiendramen vom WUNDER VON BERN bis zum LEBEN DER ANDEREN, in dem Joseph Goebbels Affäre mit der Schauspielerin Lida Baarova einem DDR-Minister angedichtet wird, und der Glaube, die Schönheit bürgerlicher Kultur mache alle zu besseren Menschen noch einmal zu Tränen rühren darf. Ganz so als wisse man nicht mehr um die Vorliebe des KZ-Kommandanten Amon Göth Hinrichtungen und Folterspiele durch klassische Musik zu untermalen. Als hätte man damit etwas über die Stasi erzählt.
IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS ist ein Film, in dem Denken inszeniert ist wie ein Thriller. Gelingt es dem jungen Anwalt, ein Bewusstsein für die Dimension von Ausschwitz zu erlangen, und aus der Auseinandersetzung die richtigen Schlüsse zu ziehen? Wie ist es möglich, der Ignoranz zu entkommen, wenn Ignoranz Staatsraison ist und Täter noch in Amt und Würden sitzen? Duelle werden hier mit Worten ausgetragen, von denen viele Originalzitate des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer sind. Bauer zog damals die Ermittlungen ans Landgericht Frankfurt. Neben der Eröffnung des Ausschwitzprozesses zeichnet er für die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer des 20. Juni 1944 und die juristische Definition des NS-Staats als „Unrechtsstaat“ verantwortlich und er nannte dem israelischen Geheimdienst den Aufenthaltsort Adolf Eichmanns. Giulio Ricciarelli setzt mit IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS auch Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ein Denkmal.

Tom Dorow

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