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Eine fantastische Frau

Merkwürdig allein

Marina ist trans und glücklich in ihrer Beziehung mit Orlando. Als Orlando stirbt, will dessen Familie die Transfrau nicht nur so schnell wie möglich aus der gemeinsamen Wohnung vertreiben, sondern am liebsten aus der Familiengeschichte löschen, nicht einmal zur Beerdigung soll Marina kommen.

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Die Iguazú-Wasserfälle an der Grenze zwischen Argentinien und Brasilien geben in Slow Motion betrachtet ein ziemlich märchenhaftes, man könnte auch sagen kitschiges Bild ab. Der Textilgroßunternehmer Orlando will seine um einiges jüngere Freundin, die Kellnerin und Sängerin Marina, dorthin entführen, und so startet EINE FANTASTISCHE FRAU mit Bildern des unerreichten Ziels eines Traumurlaubes. Denn tatsächlich erleidet Orlando noch in derselben Nacht einen Herzinfarkt, fällt die Treppe herunter und stirbt nur wenig später im Krankenhaus.

Für Marina beginnt mit dem Verlust ihrer großen Liebe ein Alptraum, und das hat verschiedene Gründe. Da wären zum einen die Polizisten, denen Marina die Blessuren an Orlandos Körper erklären muss. Dann wäre da der Chefarzt, dem Marina ihre Beziehung zu Orlando erklären muss. Und dann wäre da die Familie Orlandos, die Marina nicht akzeptiert und sie einfach nur aus ihrem Leben haben will. Es wird im Film nicht ein einziges Mal ausgesprochen, aber Marina ist eine Transfrau. Das ist nicht der größte Konflikt, doch das Drehbuch von Sebastián Lelio (GLORIA) meint durch diesen Zustand die Dramen noch mannigfaltig potenzieren zu können. Die Klassenunterschiede, der Altersunterschied und die Tatsache, dass Orlando eigentlich eine Frau hatte, hätten dem Zusammenprall der beiden Parteien schon genügend Zündstoff gegeben, doch die Tatsache, dass Marina eine „Perversion“ darstellt, machen die Gräben schließlich unüberbrückbar.

In glatten, teilweise künstlerisch überhöhten, aber dann doch irgendwie auch biederen Bildern, stellt uns Lelio eine Frau vor, die er fantastisch findet, die sich aber bis zum Ende des Filmes nur rechtfertigen muss. Marina reagiert die meiste Zeit, aber agiert selbst erst zum Ende des Films. Ständig wird sie vereinnahmt, hinterfragt, beleidigt und muss ohnehin immer für die Außenwelt zur Verfügung stehen. Das Verhör einer Sexualkriminalistin findet während der Arbeitszeit statt, die Polizei stoppt sie auf offener Straße, im öffentlichen Raum wird sie pausenlos gedemütigt –und bleibt doch standhaft.

Marina ist eine denkwürdige Figur, vergleicht man sie mit der reuelosen und lebenswütigen Gloria aus Sebastián Lelios letztem Berlinale-Liebling über starke Frauen. Mit ihrem Anderssein ist sie merkwürdig allein, da der gesamte Film, den Lelio ironischer Weise als in seiner Textur „trans“ bezeichnet, vollkommen in heteronormativen Gesellschaftsmustern verharrt, aus denen seine Figur weder ausbrechen kann noch will. Neben der Arbeit gibt es die Schwester und deren Mann als Bezugspersonen, Freund*innen oder gar eine eigenständige queere Ersatzfamilie aber nicht. Marina ist allein und das passt irgendwie nicht zu ihr. In einer als Katharsis inszenierten Szene des Films begibt sich Marina dann schließlich in die Niederungen einer Gay Bar und tanzt das ersten Mal, traumhaft und surreal bebildert, mit anderen Perversen. Zuvor und danach wird sie gefragt, ob ihr Name ein Pseudonym sei, sie wird in der männlichen Form angesprochen, als „Verrückter“, „Chimäre“ und „geschminkte Schwuchtel“ bezeichnet. Verbale Gewalt, die wehtut – wenn man sie erfährt, und wenn man ansieht, wie andere sie erfahren.

Marina aber macht nichts, ihre Wut entlädt sie bei Boxübungen in geschlossenen Räumen - Eine politische Agenda hat sie im Gegensatz zu ihrer Darstellerin, der trans*identen Daniela Vega, nicht. Die redet in Chile offen und kämpferisch über die schwierige Lage von Trans*menschen und war ursprünglich nur als Beraterin des Drehbuchs vorgesehen, bevor Lelio ihr die Hauptrolle gab. Sie macht den Job, den man ihr gegeben hat, extrem gut, und irgendwann darf sie auch ein bisschen Gloria sein und das Familienauto besteigen, um für ihr Recht auf den gemeinsamen Hund zu kämpfen. Ansonsten behält sie Contenance, antwortet „Sowas fragt man nicht“ auf die Frage nach ihrer Geschlechtsangleichung und nimmt Gesangsstunden.

Es wäre befreiend gewesen, Marina am Ende allein an den Iguazú-Wasserfällen stehen zu sehen, zu wissen, dass eine Frau, ob nun fantastisch, trans* oder beides, keinen Mann braucht. Doch die vermeintliche Befreiung kommt stattdessen auf der Bühne, wo alle Blicke wieder auf Marina gerichtet sind - nur dieses Mal in ihrem Wissen und mit Bewunderung.

EINE FANTASTISCHE FRAU wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch und den Teddy für den besten Spielfilm ausgezeichnet.

Toby Ashraf

Details

Originaltitel: Una mujer fantástica
Deutschland/USA/Spanien/Chile 2017, 100 min
Genre: Drama
Regie: Sebastián Lelio
Drehbuch: Gonzalo Maza, Sebastián Lelio
Kamera: Benjamín Echazaretta
Verleih: Piffl Medien
Darsteller: Aline Küppenheim, Amparo Noguera, Luis Gnecco, Daniela Vega, Francisco Reyes
FSK: 12
Kinostart: 07.09.2017

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