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Die Spur

Rehe blicken zurück

In einem Hinterwäldler-Dorf an der polnisch-tschechischen Grenze werden Jäger ermordet aufgefunden. Neben den Leichen finden sich Rehspuren im Schnee. Nehmen die Tiere Rache? Astrolgin Janina Duszejko ermittelt.

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Berge, tiefer Wald, eine Nebelnacht in Polen. Zwischen den Bäumen tauchen Silhouetten auf – Rehe und Hirsche. Wie die Wächter des Waldes stehen sie ganz still und beobachten. Und für einen Moment teilen wir Zuschauer ihre Perspektive. Sie beobachten eine Zusammenrottung von Menschen, Menschen in Geländewagen und mit Gewehren, Menschen, die sie und ihresgleichen totschießen wollen: Jäger.

Nach KÖRPER UND SEELE ist Agnieszka Hollands DIE SPUR der zweite große Film der letzten Berlinale, dessen Eröffnungssequenz den Rehen gehört, diesen zarten und majestätischen Tieren, die wohl auch deshalb beim Menschen beliebt sind, weil sie niemandem etwas zu leide tun. Sie spielen auch im weiteren Verlauf der Handlung eine große Rolle, als Mordopfer, Mordverdächtige, allgegenwärtige Beobachter. Die Menschen in der schönen Gegend an der tschechischen Grenze, in der die Geschichte spielt, benehmen sich weniger würdevoll. Es ist eine Macho-Gesellschaft, rückständig und korrupt, die Jagd wird als Männlichkeitsritual zelebriert, für junge Frauen scheint Prostitution unumgänglich.

Janina Duszejko ist in dieser Gesellschaft eine Außenseiterin, ein hellsichtiger Freigeist, pensionierte Ingenieurin, die viel in der Welt unterwegs war. Sie studiert Astrologie und die Gesetze des Lebens, lebt im Einklang mit der Natur, schafft sich in geistiger Einöde ihre eigene Welt. Eines Tages sind ihre geliebten Hunde verschwunden. Kurz danach findet sie eine verstümmelte Leiche – der Polizeichef, ein passionierter Jäger. Die Rehspuren im Schnee will außer Duszejko niemand bemerken. Als ein zweiter Mord passiert, wieder ein Jäger und notorischer Tierquäler, gibt es wilde Verdächtigungen, eine falsche Verhaftung – und wieder finden sich Tierspuren bei der Leiche. Duszejko gerät immer heftiger mit der Obrigkeit aneinander, weil niemand ihrer Theorie glaubt. Nehmen die gequälten Tiere Rache an ihren Mördern?

DIE SPUR ist virtuos inszeniert, jedes Bild ist vielschichtig und voller Informationen, die sich zum Teil erst bei mehrmaligem Sehen enthüllen. Dichter Plot, Geheimnisse, schnelle Wendungen - die effektive, moderne Erzählweise verdankt sich wohl auch der Arbeit an den hochkarätigen Serien, die Agnieszka Holland in den letzten Jahren inszeniert hat. „House of Cards“, „The Wire“, „The Killing“ haben der Handschrift der tief im europäischen Autorenkino verwurzelten Regisseurin Tempo und Leichtigkeit hinzugefügt. In Co-Regie mit ihrer Tochter Kasia Adamik wirbelt sie spielerisch Genregrenzen durcheinander, benutzt Versatzstücke von Krimi, Milieustudie und furiosem Rachethriller und mischt sie zu etwas völlig Neuem. Ihr Film ist ein anarchisches Märchen, in dem wie immer im Märchen den Bösen Böses geschieht, ein „Rape-revenge-movie“ der anderen Art mit Mordmethoden, die es im Kino so noch nicht gab. Auf der Berlinale war der verdiente Lohn der Alfred-Bauer-Preis für Innovation.
Außergewöhnlich ist auch die Hauptfigur. Wie oft ist die Kinoheldin eine ältere Frau, die ein Berufsleben hinter sich hat, macht was sie will, und gleich zwei Verehrer hat? Umso mutiger ist, dass Holland ihre Heldin, die der polnische Theaterstar Agnieszka Mandat mitreißend spielt, im Laufe des Films ambivalenter werden lässt, dem Zuschauer größere Brüche zumutet, als man zunächst ahnt.

DIE SPUR ist auch ein Kommentar Agnieszka Hollands zur politischen Lage in ihrer Heimat Polen und in Amerika, wo sie die meiste Zeit lebt. Mit der engstirnigen, schießwütigen Dorfbevölkerung zeichnet sie ein abgründiges Bild der Milieus, die in beiden Ländern nationalistische Regierungen an die Macht gebracht haben und gibt denen eine Stimme, die dagegen aufbegehren. Ihr Film zeigt, wie selbstverständlich wir von der Ausbeutung anderer Spezies leben und feiert die Ordnung der Natur und ihre regenerative Kraft. Die Auflösung seiner irren Story stellt philosophische Fragen nach unserem Verständnis des Lebens.

Susanne Stern

Details

Originaltitel: Pokot
Deutschland/ Schweden/ Polen/ Tschechien/ Slowakei 2017, 128 min
Genre: Drama, Crime, Mysterie
Regie: Agnieszka Holland
Drehbuch: Agnieszka Holland, Stepán Hulík
Kamera: Jolanta Dylewska
Schnitt: Pavel Hrdlicka
Musik: Antoni Lazarkiewicz
Verleih: Film Kino Text / Die Filmagentinnen
Darsteller: Miroslav Krobot, Jakub Gierszal, Wiktor Zborowski, Agnieszka Mandat-Grabka, Patrycja Volny
FSK: 12
Kinostart: 04.01.2018

Website
IMDB

Vorführungen

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