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Die Ökonomie der Liebe

Umkämpftes Terrain

Marie hat das gemeinsame Haus bezahlt, Boris hat es aufwändig renoviert – und dann gibt es noch zwei Töchter. Alles begann damit, dass Boris' Einkommen nicht reichte. 15 Jahre später ist das gemeinsame Heim zu einem Seelengefängnis geworden.

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Zur Vorbereitung der Dreharbeiten von DIE ÖKONOMIE DER LIEBE hat Regisseur Joachim Lafosse seinen Darstellern nur einen Film empfohlen: WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF? Woran DIE ÖKONOMIE allerdings fast noch mehr erinnert als an den giftigen Theaterklassiker, sind die herzzerreißenden SZENEN EINER EHE von Ingmar Bergmann, in denen das Ehepaar Marianne und Johan sich weder richtig trennen noch glücklich zusammenleben kann.

Auch Marie (Bérénice Bejo) und Boris (Cedric Kahn) befinden sich mitten im Auflösungsprozess ihrer Ehe. Theoretisch sind sie bereits getrennt, praktisch leben sie mit ihren beiden Töchtern Jade und Margaux immer noch zusammen in der gemeinsamen Wohnung, die sie durch strikte zeitliche und räumliche Regeln zu teilen versuchen. Wie absurd das Arrangement ist, zeigt sich, als Boris früher als geplant von der Arbeit nach Hause kommt: Die Kinder sind noch nicht im Bett und freuen sich über den Papa, aber gegessen wird trotzdem nur zu dritt, während Boris in dem Zimmerchen sitzt, das ehemals wohl das Arbeitszimmer war und dessen notdürftig mit Packpapier verkleidete Scheiben nun etwas Privatheit herstellen sollen. Dass eine Trennung in dieser Form, in dieser Umgebung, in der alles auf die Routinen einer eng verwobenen vierköpfigen Familie abgestimmt ist, nicht möglich ist, ist sonnenklar, aber loslassen will keiner. Für Marie ist es selbstverständlich, dass Boris ausziehen soll, denn nominell gehört ihr die Wohnung. Er besteht darauf, dass seine Renovierungen zur Wertsteigerung der Immobilie beigetragen haben und möchte ausbezahlt werden, was Marie sich nicht leisten kann.
Die finanziellen Auseinandersetzungen sind ebenso realistisch wie schwer erträglich. Sie hat die Raten gezahlt, oder zumindest überwiegend, er hat den ganzen Umbau gemanagt, sie hat keine Ahnung, was es heißt, kein Geld zu haben, für ihn war das Arrangement doch ganz bequem so, sie gibt ihm höchstens 1/3, er verlangt mindestens die Hälfte… Aber umkämpftes Terrain ist eigentlich alles. Die Freunde, das Verhältnis zur Mutter, die Kinder. Symptomatisch zieht sich die Geschichte mit den Turnschuhen durch den Film. Jade spielt Fußball und Boris hat versprochen, dem Mädchen neue Fußballschuhe zu kaufen, offenbar wurde der Termin schon mehrmals verschoben. In der Woche darauf zeigt ihm Jade das Präsent, dass sie von der Mama bekommen hat: neue Schuhe. Boris schnappt sich die Schuhe und stapft zu Marie „Du bringst sie gegen mich auf“ brüllt er sie an. „Das Match ist morgen“, schreit sie zurück. Die Mädchen hören bedrückt zu und am nächsten Tag will Jade nicht mehr zum Fußball.

In brillanten Dialogen fängt Joachim Lafosse das Ringen der Familie miteinander, umeinander und um die eigene Würde ein. Diese beiden wollen einander nicht verletzten und ihre Kinder noch viel weniger. Immer wieder sind da auch der Momente der Wärme, in denen die Familie fast wieder wie früher zu funktionieren scheint, aber sie haben keine Chance, sich gegen die Ressentiments durchzusetzen. Es sind die traurigsten Momente des Films. Boris sagt „Lass uns eine Paartherapie versuchen“, Marie stimmt zu, aber glauben tun es beide nicht mehr. Das Stadium der Zerrüttung, das unmittelbar vor dem Ende oder dem Neuanfang steht, verkörpern nicht nur die erwachsenen Schauspieler mit größter Präzision, auch die beiden Kinderdarstellerinnen Jade und Margaux Soentjens als völlig verunsicherte 8-jährige Zwillinge, die zwischen Anhänglichkeit, Verdrängung und Trotz pendeln, spielen atemberaubend naturalistisch.

Die Wohnung selbst dagegen ist fast zu schön um wahr zu sein. Ein sonniger Hinterhoftraum, eine helle Remise mit Gartentisch, lichtblaue Kacheln im Bad, ein in der Wand versenkbarer Ofen, schöne Wandbehänge und besonders unrealistisch in der angespannten Lage: frische Blumen auf jedem Regal. Sie ist wie die Material gewordene Erinnerung an eine glücklichere Familie. Eine Erinnerung, die Marie und Boris nicht aufgeben wollen, weil es zu sehr weh tut, die sie aber aufgeben müssen, wenn sie weiterleben wollen.

Hendrike Bake

Details

Originaltitel: L'économie du couple
Frankreich/Belgien 2016, 100 min
Genre: Drama
Regie: Joachim Lafosse
Drehbuch: Joachim Lafosse, Thomas van Zuylen, Fanny Burdino, Mazarine Pingeot
Kamera: Jean-François Hensgens
Verleih: Camino Filmverleih
Darsteller: Marthe Keller, Bérénice Bejo, Tibo Vandenborre, Cédric Kahn, Catherine Salée
FSK: 12
Kinostart: 03.11.2016

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