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Das unbekannte Mädchen

Eine Detektivgeschichte von den Dardenne-Brüdern

Eine Ärztin geht nach Praxisschluss nicht mehr an die Tür und macht sich so mitschuldig am Tod einer jungen Frau. Auf der Suche nach der Identität des „unbekannten Mädchens“ nimmt sie den Puls einer Gesellschaft, die mit ihrer Gleichgültigkeit mindestens ebenso viel Verantwortung trägt wie sie.

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Wir diagnostizieren. Gemeinsam mit der sehr jung wirkenden Ärztin (Adéle Haenel) horchen wir hautnah auf das Atmen eines gebeugten alten Männerrückens. Sie arbeitet aufmerksam, präzise. Sparsam äußert sie sich, und trotz der maximalen Selbstkontrolle ihres Ausdrucks vermittelt sich das Gefühl, bei ihr in kompetenten Händen zu sein. Die Lage mag sich auch dramatischer präsentieren - als nächsten Patienten findet sie einen kleinen Jungen mit einem Krampfanfall auf dem Fußboden des Wartezimmers - aber Dr. Jenny Davin tut jedes Mal das Angebrachte, um eine Verbesserung zu erwirken. Ihr Praktikant Julien ist da aus weicherem Holz geschnitzt, überwältigt steht er neben sich und der Situation, die seinen Einsatz bräuchte. Als es jedoch wenig später, deutlich nach Praxisschluß, noch an der Tür klingelt, ist er es, der ganz selbstverständlich das menschlich Naheliegende tun und öffnen will. Jenny hält ihn zurück, warnt vor Fehldiagnosen wegen Übermüdung, befürchtet rücksichtslos-nachlässiges Anspruchsdenken von Patientenseite.

Was nachvollziehbar klingt, stellt sich im Nachhinein als katastrophales Versäumnis heraus: Die Klingelnde war eine junge Frau auf der Flucht vor Gewalt, die schließlich in der Nähe zu Tode kam. Bestürzt stellt die Ärztin fest: "Hätte ich gehandelt, wäre sie noch am Leben, so wie ich." Es stand in ihrer Macht zu helfen, und sie hat es nicht getan. Sie kannte die Tragweite ihrer Unterlassung nicht, und dennoch fühlt sie das volle Gewicht der unabänderlichen Konsequenz. Ein Kollege wendet ein: "Aber Sie haben sie nicht umgebracht...", doch das ändert nichts daran, dass es bei Jenny einen Bruch in ihrem Selbstbild gibt. Als Reaktion bemüht sie sich darum, die unbekannte Tote nachträglich kennenzulernen. Sie will dabei gar nicht so sehr herausfinden, wie das Mädchen gestorben ist, ob ein Mord geschehen ist oder wer der Täter sein könnte. Sie fokussiert sich allein auf die Frage nach der Identität der Unbekannten.

Dennoch resultiert die Suche in einem für die Brüder Dardennes ungewöhnlichen Stück Genrefilm: Wie ein hard-boiled private eye der alten Schule durchforstet unsere Amateurdetektivin die Niederungen der sie umgebenden Gesellschaft. Wie ein Lügendetektor ermittelt sie durch den Puls der Patienten deren Erregungszustände und damit ihre Geheimnisse, wie ein Lügendetektor spürt sie auf, wo ihre - unsere - Gesellschaft versäumt, Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn die Einzelnen sagen können, sie hätten die Unbekannte nicht getötet, sind doch alle irgendwie beteiligt am Leiden und schließlich Sterben eines Menschens: Ihre eifersüchtige Schwester war erleichtert, als die jüngere aus dem gemeinsamen Haushalt verschwand und sie ihren Ehemann wieder für sich allein hatte. Der Alte im Heim hat sie „nur“ als Prostituierte benutzt, dafür brauchte er sich ihren Namen nicht merken, der Teenager macht bloß eine Falschaussage und der Polizist vergisst, über ihre Bestattung zu informieren. Diagnose: Wir sind krank. Die Schuldbewussten entwickeln körperliche Symptome. Und die Ärztin lässt nicht locker beim Versuch des Heilens dieser Symptome, aber auch des entstandenen Unrechts. Jenny bleibt ihrem Ethos treu, auch wenn es unangenehm wird, gibt keine falschen Krankschreibungen heraus, geht zum Patienten in Not, obwohl sie zuvor von derselben Person harsch abserviert wurde.

Beiläufig wird auch etwas über das Gesundheitssystem erzählt, und über die Werteskala einer Gesellschaft, in der Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung fürchten müssen bei der Suche nach medizinisch notwendiger Hilfe abgeschoben zu werden. Da ist der Mann mit der schlimmen Wunde am Bein, die sich entzündet hat, weil er sich nicht ins Krankenhaus traut. Da ist auch der alte Arzt, selbst krank in einer Klinik, der sich jahrzehntelang um die Kassenpatienten im sozial benachteiligten Viertel nahe der Schnellstraße gekümmert hatte, in deren Nähe das unbekannte Mädchen ums Leben kam. Seine Entscheidung, als Hausarzt in solch einer Gegend zu arbeiten, bedeutete das, was Jenny nun klaglos als Sühne auf sich nimmt: ohne Karriereaussichten schlecht bezahlt mit dauernden Überstunden schwierige, arme und unglückliche Menschen zu versorgen. Doch nimmt man hier den Puls des Gewissens, dann schlägt er deutlich ruhiger.

So subtil sich diese Veränderung abzeichnet, so vorsichtig ist auch die gesamte Inszenierung dieses mittlerweise zehnten gemeinsamen Spielfilms der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne (ZWEI TAGE, EINE NACHT, DER FAHRRADDIEB, DAS KIND). Zusammen mit ihrer bei aller Zurückhaltung unglaublich intensiven Hauptdarstellerin gelingt es ihnen, zugleich eine fast dokumentarisch-konkrete Milieugeschichte und eine metaphorisch-abstrakte Fragestellung zu kollektiv gelingendem Leben zu verhandeln. Indem Jenny anders als vor ihrem tragischen Versuch, professionellen Abstand zu wahren, das Bedürfnis der Patienten nach ganzheitlicher Versorgung und ihre resultierende Dankbarkeit ein klein wenig näher an sich heranlässt, entsteht auch zarte Hoffnung für das Projekt Menschlichkeit.

Anna Stemmler

Details

Originaltitel: La fille inconnue
Frankreich/Belgien 2016, 113 min
Genre: Drama
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Kamera: Alain Marcoen
Schnitt: Marie-Hélène Dozo
Verleih: Temperclay Filmverleih
Darsteller: Jérémie Renier, Adele Haenel, Olivier Bonnaud, Louka Minnella
FSK: 6
Kinostart: 15.12.2016

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IMDB

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