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Auf einmal

Verklinkerte Fassaden

Der Unternehmersohn Karsten leistet sich einen Seitensprung. Als die junge Frau auf einmal zusammenbricht, ruft Karsten nicht die Ambulanz, sondern läuft zu Fuß zu einer Poliklinik um die Ecke. Anna stirbt und Karsten wird auf unterlassene Hilfeleistung verklagt. Klaustrophobisches-Kleinstadt-Mittelschichts-Psychogramm.

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Während Karstens Freundin aus dem Haus ist, feiert der Unternehmersohn und Jung-Banker eine Party, bei der nur Anna am Ende in seiner Wohnung bleibt. Als die junge Frau zusammenbricht, ruft Karsten nicht die Ambulanz, sondern läuft zu Fuß zu einer Poliklinik um die Ecke. Als er zurückkommt, ist Anna tot, und Karsten wird auf unterlassene Hilfeleistung verklagt. Karstens Freundin verlässt ihn, die Firma degradiert ihn, Freunde distanzieren sich, die Eltern manipulieren im Hintergrund. Als sich herausstellt, dass Anna verheiratet war und aus einer russlanddeutschen Familie stammt, sorgt sich der Herr Vater sofort über „diese Leute“. In AUF EINMAL lauert nichts hinter einer bürgerlichen Fassade, hier ist die Fassade selbst mit Fremdenfeindlichkeit, Standesdünkel, Lügen und Verschweigen verklinkert. Der selbstmitleidige Drückeberger Karsten ist einer dieser Typen, die es sich unter dem Einfluss und mit Hilfe der Eltern bequem gemacht haben, zur Hälfte selbstverständlicher Statusanspruch, zur Hälfte weinerliches Söhnchen.

In ihrem ersten deutschsprachigen Film macht die türkische Regisseurin Asli Özge aus diesem Mittelstands-Psychogramm ein klaustrophobisches Kleinstadtdrama. AUF EINMAL drehte sie in Altena im Sauerland, einer von bedrückend wirkenden Bergen umschlossenen Kleinstadt, die einerseits wie ein geschlossenes System wirkt, andererseits nahe genug an urbanen Ballungszentren liegt, so dass hier der Abglanz urbaner Hipness bei den jungen kleinstädtischen Managern erst recht zur Wirkung kommt. Die Herkunft bestimmt die Codes, die Codes bestimmen den Status, und Status ist in dieser geschlossenen Gesellschaft alles, was zählt. Özges Stärke ist es hier, wie in ihrem letzten Film LIFELONG, Räume, Hintergründe und Atmosphären zu schaffen, durch die sie gesellschaftliche Strukturen offenlegt. Ihre Figuren wirken immer wie in den Bildern gefangen. Ständig bilden Wände, Fenster, Hecken und Berge einen zweiten Rahmen um die Personen. Wenn Karsten von seiner Firma degradiert wird, bedeutet das vor allem den Umzug in einen lichtloseren Raum, in dem jeder Ausblick verstellt ist.

Die Schauspieler haben es nicht leicht in dieser Konstellation, in der es kaum Luft zum Atmen gibt. Die Dialoge wirken etwas zu schriftsprachlich, oft auch pädagogisch: Was sich in den Bildern schon zeigt, muss zu oft noch einmal ausgesprochen werden. Aber das permanent angespannte, holzige Spiel hat hier auch seine Berechtigung: Es gibt in dieser Gesellschaft der vollkommenen Beherrschtheit keine entspannte Sprache. Beziehungen werden ausgehandelt wie Werkverträge: Motivation, Image und Rendite müssen stimmen. Karstens Versuch eines kleinen Fehltritts innerhalb dieses strikten Universums – einmal Sex mit einer Fremden, während die Freundin nichts mitbekommt – und sein jämmerlicher Versuch, diesen zu vertuschen, offenbart nicht nur die Charakterlosigkeit seiner Person, sondern führt zu der Frage, wie es in dieser Gesellschaft überhaupt zur Ausbildung eines Charakters kommen soll.
AUF EINMAL ist, wie LIFELONG zuvor, ein zutiefst pessimistischer Film. Die kleinstädtische Gesellschaft ist ständisch organisiert und darauf ausgerichtet, Positionen zu behaupten und auszubauen. Das Leben wird zu einer machiavellistischen Schlacht, bei der es um Geld, Status und Trophy-Beziehungen geht. Ausbrüche, wie der, den Anna gewagt hat, als sie sich uneingeladen auf Karstens Party schlich, sind lebensgefährlich. Hier gilt es nicht, sich zu entfalten oder irgendetwas zu reflektieren, sondern darum, Gelände zurück zu erobern: das Top-Büro, den Tob-Job, die Top-Freundin und ihre Top-Freunde, am besten mit dem Lorbeerkranz auf dem Haupte des Provinzprinzen.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: All of a Sudden
Deutschland/Frankreich/Niederlande 2016, 112 min
Genre: Drama
Regie: Asli Özge
Drehbuch: Asli Özge
Kamera: Emre Erkmen
Schnitt: Muriel Breton, Asli Özge
Verleih: MFA+ FilmDistribution
Darsteller: Julia Jentsch, Hanns Zischler, Sebastian Hülk, Luise Heyer, Sascha Alexander Geršak
FSK: 12
Kinostart: 06.10.2016

Website
IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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